Schwaz - Avantgardistische Kunstproduktion gleiche der Aussetzung einer Flaschenpost, formulierte Theodor W. Adorno dereinst. Da der innovativ Schaffende nicht darauf vertrauen könne, mit seiner Botschaft Gehör zu finden, versiegle er diese gedanklich in einer Flasche und übergebe sie dem launischen Meer der Geschichte, in der Hoffnung, dass irgendwann in der Zukunft sich jemand finden würde, der sie öffnet und versteht.

Erkki-Sven Tüür hat für derartige Schicksalsergebenheit wenig übrig. "In meiner Musik sollte es eine Linie geben, der das Publikum beim ersten Hören folgen kann, etwas, das einen beim ersten Hören spontan erfasst." Er zeigt keinerlei Berührungsängste in Richtung Tradition. Seine Musik amalgamiert die Klangtechniken des 20. Jahrhunderts, von Zwölfton- und seriellen Strukturen bis hin zu Ligetischen Klangflächen, mit der Hymnik des gregorianischen Chorals und der Sinnlichkeit postromantischen Schönklangs.

Tüür mildert das Abstrakte im Expressiven und schafft so eine in ihrer exakt auskomponierten, wuchtigen Plastizität überzeugende Konsensmusik, die ihn in den letzten Jahren zu einem der Shootingstars unter Europas Komponisten hat aufsteigen lassen. Dass er komponiert, wie er komponiert, hängt nicht nur mit seiner estländischen Herkunft und dem so geschärften, kritischen Blick auf die Orthodoxie der westlichen Avantgarde zusammen. Als 1959 Geborener war für ihn stets klar, "dass ich nicht aus dem Gefühl unbedingter Originalität heraus Musik mache".

Dennoch sieht sich Erkki-Sven Tüür nicht als postmoderner Komponist. Ist er doch im Gegensatz zu seinem verstorbenen exsowjetischen Kollegen Alfred Schnittke, der in seinen polystilistischen Collagen etwa Haydn, Jazz und Tango bruchhaft aufeinander prallen ließ, an der organischen Verbindung des Gegensätzlichen interessiert.

"Für mich stellen Dreiklang, Zwölftonreihe und Cluster völlig gleichwertige Farben ein und derselben Palette dar", so Tüür. "Meine Intention ist es, ihre unterschiedlichen historischen Bedeutungen zum Verschwinden zu bringen." Im Gegensatz zu Schnittke erlaubt sich Tüür in seiner Musik auch kaum Ironie. Stattdessen prangen dort dunkle Farben, öffnen sich weite Räume, wird ein unüberhörbarer Hang zum (in Werken wie Pas- sion und Requiem) auch religiös konnotierten Pathos greifbar. Unüberhörbar ist in diesen klingenden Charakteristika Tüürs Verwandtschaft mit seinem berühmten Landsmann Arvo Pärt. Und er verweist gerne auf den Einflussfaktor seiner Progressive-Rock-Band In Spe, die er 1978 gründete und 1983 verließ.

Geblieben ist auch hier die fehlende Scheu, über den Zaun zu blicken: "Was sich in der experimentellen Jazzszene tut oder auch King Crimson, Genesis, Frank Zappa machten, das interessiert mich doch sehr." Heute, Samstag, werden im Rahmen der Klangspuren Schwaz Erkki-Sven Tüürs Motus 2 wie auch neue Werke von Rebecca Saunders, Misato Mochizuki, Tatjana Komarova und Christof Dienz zur (Ur-)Aufführung gebracht. (DER STANDARD, Printausgabe vom 13./14.9.2003)