Brasilien bin ich seit jeher mit Respekt begegnet. Die Favelas aus dem Geografie-Unterricht noch im Hinterkopf und viele warnende Geschichten hinsichtlich der Sicherheit, erzählt von Freunden, haben mich lange daran gehindert, ein Flugticket zu kaufen. Auch Caro, bei der ich in Rio de Janeiro wohnen werde, warnt mich bereits vor meiner Ankunft vor. Eingeschüchtert und mehr verunsichert als normalerweise, lande ich daher in Rio de Janeiro und stehe im Dunkeln.

Stromausfall am Flughafen: Licht aus. Computer aus. Leichter Stress steigt auf.  Was tun, wenn Caro nicht auf mich wartet, frage ich mich? Langsam gehe ich daher alle möglichen Plan B-Optionen im Kopf durch, wie und wo ich wohl meine erste Nacht in Rio de Janeiro verbringen könnte.

Strom bleibt aus, aber die Brasilianer bleiben gelassen und wir reisen ein, ohne einen Eintrag im Computersystem zu bekommen. Auch Caro wartet noch, ist entnervt und gleichzeitig beschämt über die schlechte Infrastruktur in Anbetracht der bevorstehenden WM.  Egal, zu Hause trinken wir zuerst einmal einen Caipirinha und zünden Kerzen an, da es an diesem Abend noch öfters zu Stromausfällen kommt.

Foto: Bianca Gusenbauer

Eine reale Fotomontage. Mein erster Tag bei Tageslicht in Rio de Janeiro verwirrt mich, denn ich scheine in einer Fotomontage gelandet zu sein. Zwei Fotos sind übereinander gelegt worden: ein Foto einer europäischen und eines von einer afrikanischen Stadt. Mit dem Ergebnis, dass mein Gehirn das Ganze nicht einordnen kann. Hält man seine Augen auf Meeresniveau, befindet man sich in einer europäischen Welt. Kaum hebt man die Augen in Richtung Himmel, ziehen sich über die steilen Hänge die grau-braunen Häuschen in den Favelas empor.


Foto: Bianca Gusenbauer

Favelas sind quasi leer gefegt tagsüber, da sie die Arbeiterbezirke Rio de Janeiros sind. Der Großteil der Bewohner hat mit Drogen nichts am Hut und leidet unter dieser Problematik und den Vorurteilen.


Foto: Bianca Gusenbauer

Als Individualtouristin fühle ich mich komisch dabei, als ich Thiago zu einer Tour in seiner Favela "Santa Marta" treffe, die oberhalb von Botafogo liegt.

Foto: Bianca Gusenbauer

Wie eine Besucherin in einem Zoo komme ich mir beim Spaziergang durch Santa Marta vor, die seit 2007 pazifiziert, d.h. befriedet und von der Polizei drogengesäubert und überwacht ist. Betroffen bin ich und Zoos habe ich noch nie gemocht.

Foto: Bianca Gusenbauer

Da Santa Marta bereits ein Austragungsort für ein MTB-Downhill-Rennen war, lässt sich die Steigung gut vorstellen. Je weiter oben wir uns befinden, desto besser die Aussicht, aber desto desolater sind die Häuser, desto mehr Müll liegt herum, desto mehr Affen sind seh- und hörbar und desto mühsamer ist der Aufstieg.


Foto: Bianca Gusenbauer

Mit der kostenlosen Seilbahn gibt es allerdings seit ein paar Jahren die Möglichkeit vom Meeresniveau auf die Spitze der Favela zu fahren. Abgesehen davon, bewegt man sich innerhalb von Santa Marta zu Fuß, da die Wege teilweise extrem schmal sind.

Foto: Bianca Gusenbauer

Knapp 7.000 Menschen sollen laut Thiago in dieser Siedlung leben und er ist zufrieden mit der Pazifizierung. Wie viele andere hofft auch er darauf, dass durch die WM und die danach kommenden Olympischen Spiele die Stadt noch in die Infrastruktur der Favelas investiert und zusätzlich viele Touristen nach Rio de Janeiro kommen werden, die er durch Santa Marta führen kann.

Gegessen habe ich auf der Tour nichts, obwohl es in Santa Marta ein paar wenige Möglichkeiten geben würde. Auch den Caipirinha von Thiagos Vater habe ich aufgrund der frühen Uhrzeit abgelehnt.


Foto: Bianca Gusenbauer

Am Strand sind die Bewohner der Favelas aber mit ihren Snacks sehr präsent und tragen wesentlich zum Strandgefühl in Rio de Janeiro bei. Strandsnacks, die also direkt aus den luftigen Höhen der Favelas an die langen Strände von Copacabana und Ipanema geliefert werden.


Foto: Bianca Gusenbauer

Ob ich eine Tour empfehlen würde? Abgesehen vom unangenehmen "Zoobesucherinnen"-Gefühl, gehören die Favelas leider zu Brasilien wie das Amen im Gebet und eine Konfrontation mit der Realität schadet garantiert keinem.

Und ja, ich gestehe, ich habe mich in Rio de Janeiro verliebt, obwohl es gefährlicher und wilder ist, als so manche andere Stadt. Denn ansonsten, scheint Rio mit seinen Reizen nicht zu geizen. (Bianca Gusenbauer, derStandard.at, 28.04.2014)