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Beim ausgelassenen Feiern kommen versteckte Bedürfnisse zum Vorschein.

Foto: dpa/Marc Müller

Glaubt man dem urbanen Mythos, kann Alkohol wahre Wunder vollbringen: Er macht aus einem Durchschnittstypen den Traumpartner, der sich schließlich zurück zum Durchschnittstypen verwandelt - und all das in nur einer Nacht. Aber kann man sich Menschen tatsächlich schöntrinken, oder dient die Redewendung lediglich als Ausrede nach einer durchzechten Nacht mit Folgen?

Gleich vorweg: Im echten Leben wird sich der Durchschnittsmann nicht plötzlich in George Clooney verwandeln. Im Gegensatz zu anderen Suchtmitteln gilt Alkohol nämlich nicht als Halluzinogen. "Man nimmt die Person also schon so wahr, wie man sie nüchtern wahrnimmt", sagt Kurosch Yazdi, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Leiter des Zentrums für Suchtmedizin an der Landesnervenklinik Wagner Jauregg in Linz.

Unkritischere Betrachtung

Alkohol führe aber zu einer Enthemmung, wodurch im Alltag unterdrückten Bedürfnissen, etwa nach Nähe oder Sexualität, angetrunken eher freier Lauf gelassen wird - man nimmt also eher, was man kriegen kann: "Menschen werden unkritischer, aber die Person wird deswegen nicht schöner", so Yazdi. Das treffe nicht nur auf die Beurteilung von Äußerlichkeiten zu, sondern auch auf die Evaluierung von Charaktereigenschaften: Wenn das Gegenüber bei einer Party nur mäßig lustig oder charmant ist, rückt dieser Makel bei Alkoholkonsum zunehmend in den Hintergrund. "Diese Person wird nicht charmanter, aber das ist mir dann egal", sagt Yazdi.

Mehrere Studien werden oft als Beweise dafür verwendet, dass Schöntrinken tatsächlich funktioniert: Eine Studie der Universität Bristol fand 2008 heraus, dass Vertreter beider Geschlechter Männer und Frauen als attraktiver bewerten, wenn sie Alkohol konsumiert haben. Für eine Studie der Universität Roehampton wurden 2011 angetrunkenen und nüchternen Probanden Fotos von unterschiedlich symmetrischen Gesichtern vorgelegt. Das Ergebnis: Für Betrunkene ist es schwieriger zu erkennen, welche Gesichter asymmetrisch sind. Weil symmetrische Gesichter als attraktiver gelten, könnte das Resultat eine Erklärung für den Mythos Schöntrinken sein.

Die Resultate der Studien treffen durchaus zu, sagt Yazdi, aber sie zeigen lediglich, dass Angetrunkene in Bezug auf Attraktivität und Symmetrie unkritischer werden.

Hang zu Extremen

Die durch Alkohol beeinflusste Wahrnehmung geht aber nicht immer nur ins Positive. "Man neigt zu Extremen", so Yazdi. Wer sein Gegenüber schon nüchtern nicht ausstehen kann, wird also unter Umständen seine Abneigung plötzlich sehr offen zur Schau tragen. "Normalerweise hat man Hemmungen, eine Person offen anzugreifen. Aber wenn man Alkohol trinkt, fällt diese Hemmung weg." Auch im Alltag verborgene Aggressionen träten ab einer gewissen Promillegrenze stärker zutage. Offenbart Alkohol also den wahren Charakter eines Menschen? "Das wäre ein bisschen ungerecht: Zur wahren Person gehören ja die Hemmungen auch, und nicht nur die grausamen Bedürfnisse." Aber: "Alkohol verändert Menschen nicht. Das, was in ihnen verborgen ist, kommt zutage."

Welche Mengen an Alkohol dafür konsumiert werden müssen, ist individuell unterschiedlich und hängt laut Yazdi davon ab, wie viel jemand sonst trinkt. Wer sonst nicht viel Alkohol konsumiert, benötige nur eine geringe Menge. Diese hänge auch davon ab, wie viel Energie jemand aufwenden muss, um seine Bedürfnisse zu unterdrücken: "Wer ständig gegen seine Bedürfnisse ankämpfen muss, benötigt  nur eine sehr kleine Menge, bis er diesen Kampf nicht mehr aufrechterhalten kann und somit völlig enthemmt wirkt." Im Gegensatz dazu würden Menschen, die in sich ruhen, auch unter starkem Alkoholeinfluss kaum verändert wirken.

Falsches Selbstbewusstsein

Nicht nur andere Menschen, auch sich selbst beurteilen Angetrunkene weniger kritisch. Yazdi spricht von einer "Pseudo-Selbstsicherheit": "Selbstsicherheit würde ja bedeuten, dass man auch kritikfähig ist." Eine Studie der Universität Grenoble hat ergeben, dass selbst Menschen, die nur glauben, Alkohol getrunken zu haben, in Wahrheit aber stocknüchtern sind, sich als attraktiver und witziger einschätzen. Placebos würden wirken, so Yazdi, weil der Mensch eben so beschaffen sei: "Das zeigt, dass unsere Einschätzungen überhaupt nichts mit der Realität zu tun haben, sondern nur mit unserer Einstellung." (Franziska Zoidl, derStandard.at, 29.1.2014)