Israel aus Nigeria.

Foto: Fabian Eder

Sizilien im Jänner: zum Reinbeißen.

Foto: Fabian Eder

Vor einem Monat haben wir Griechenland verlassen, und nun stehen wir also wieder vor den Spuren der Griechen. Es ist kein Zufall, dass die Wiege unserer Zivilisation im Mittelmeerraum liegt. Porto Empedocle, nach dem griechischen Philosophen benannt, dahinter das "Tal der Tempel" und darüber Agrigent und die spektakuläre Kulisse Siziliens. Wenn die Sonne rauskommt, ist man versucht zu meinen, es sei April. Frische Früchte, Fisch, Gemüse - Sizilien ist ein vitales, reiches Land, nichts erinnert an eine Insel, hier ist Festland - "terraferma" -, Kontinent, Europa.

Im großen Hafen legt die Fähre aus Lampedusa an. Hinter der zweiten Mole - eine reicht nicht, um das Hafenbecken vor den stürmischen Südwinden zu schützen - drängen sich viele Fischerboote aneinander, dahinter - mit Respektabstand - die Guardia di Finanza mit ihren gepanzerten Schnellbooten. Vorne an der Hafeneinfahrt steht eine Madonna unter dem Leuchtfeuer, wenige Meter dahinter befindet sich ein Schiffsfriedhof, Boote, die es aus Afrika bis hierher geschafft haben und deren Reise hier für immer zu Ende ist.

Überfahrt um 8.000 Euro

Wir besuchen die Associazione Nuova Civilità in San Cataldo und treffen Mohammed, der sich vor einigen Jahren mit siebzehn dazu entschloßen hat, Ägypten zu verlassen. 8.000 Euro habe er für die Überfahrt bezahlt, auf einem 14 Meter langen Schiff mit 55 anderen - ohne Essen, ohne Wasser. Nach 15 Tagen auf See seien sie gezwungen worden, vor der Küste Agrigents ins Wasser zu springen, da das Boot nicht nahe an die Küste herankonnte - oder -wollte.

Der Kapitän habe ihnen Kanister ins Wasser nachgeworfen, die meisten der jungen Leute konnten nicht schwimmen, sieben sind ertrunken. Ihr Ziel sei von vornherein Italien gewesen, denn von hier könne man als Minderjähriger nicht zurückgeschickt werden - der vielleicht einzige "menschliche" Zug am sogenannten Bossi-Fini-Gesetz, wahrscheinlich eine Unachtsamkeit seiner Erfinder, ansonst: praktizierter Faschismus.

Kriminalisierung der Rettung aus Seenot

Das Bossi-Fini-Gesetz besagt, dass Asylsuchende in Italien leicht abgewiesen werden können, wenn sie nicht bereits in ihrem Ursprungsland um eine Einreisegenehmigung beziehungsweise Asyl angesucht haben oder nicht bereits vor ihrer Einreise eine Anstellung durch eine italienische Firma nachweisen können. Zudem kriminalisiert es Rettung aus Seenot als Beihilfe zur illegalen Einwanderung vulgo Schlepperei.

Darauf baute der Fall der Cap Anamur II im Jahr 2004 auf, und nach den Katastrophen im vergangenen Herbst erhitzten sich an diesem Umstand die Gemüter. Für Commander Andrew Mallia von den Armed Forces of Malta war - wie wir auf unserer Reise erfahren haben - die Sache klar: Seerecht ist internationales Recht und damit höher zu bewerten als europäisches oder gar nationales. Und das Seerecht verpflichtet eindeutig zur Hilfeleistung.

Einfacher Grundstein zur Integration

Die Associazione Nuova Civilità hat auf Initiative von Giancarlo Tirendi ein eigenes Lokal, die "Locanda del buon Samaritano", eingerichtet, in dem Jugendliche die Gelegenheit bekommen, einen Beruf zu erlernen. Dank dieser Einrichtung konnte Mohammed eine Ausbildung absolvieren. Er sei ein hervorragender Koch, wird uns versichert. Außerdem spreche er ausgezeichnet Italienisch. Als er ankam, konnte er kein Wort. Eine von vielen Initiativen der Associazione, um jungen Leuten in schwierigen Situationen weiterzuhelfen - dabei macht man keinen Unterschied zwischen Migranten und italienischen Jugendlichen.

Mir fällt auf, dass damit ein ebenso verblüffend einfacher wie funktionierender Grundstein zur Integration gelegt wird, denn Integration bedeutet die Aufnahme in eine Gesellschaft, das Wegsperren in Lager ist hingegen nichts anderes als Separation.

Sehnsucht nach der Heimat

"Integration kann nur funktionieren, wenn die Menschen arbeiten dürfen", sagt Giancarlo Tirendi, der als Psychologe in dem Heim mit den jungen Leuten arbeitet. Wir sprechen auch mit Hamidalla, der aus Afghanistan über den Irak, die Türkei, Griechenland, Norwegen nach Italien kam, oder mit Israel, der aus Nigeria noch durch Gaddafis Libyen über Lampedusa nach Sizilien kam und oft an seine Freundin "zu Hause" denken muss.

Heiraten wolle er sie, und seine Augen blitzen verliebt, aber zurück nach Nigeria, das könne er nicht. Ich stelle fest, dass er ja nun nicht nur Italiener sei, sondern auch Europäer. Er stimmt mir mit Freude zu, aber sein Platz sei trotzdem in Sizilien, denn hier habe er Arbeit und eine Möglichkeit zu leben.

Alle sind sie um Anfang zwanzig, natürlich gebe es hin und wieder Reibereien zwischen den Jugendlichen, aber das sei ganz normal, meint Giancarlo Tirendi. Dann spricht er über Italien und kommt gelassen zu dem Schluss: "Alle waren hier - die Phönizier, die Griechen, die Römer, die Türken, Araber und weiß Gott wer noch aller, im Moment sind es die Italiener. Na und? Sie kommen und sie gehen. Es werden andere kommen."

Doppelzüngigkeit als ständiger Begleiter

Er spricht mit großer Ernsthaftigkeit von seiner Arbeit mit den jungen Leuten, den Schwierigkeiten mit den Gesetzen, manchen Müttern, die nach einiger Zeit fragen, wem sie denn nun ihre Kinder verkaufen könnten, wie es ihnen versprochen worden sei. Er spricht vom Menschenhandel für Prostitution - jeder wisse davon, und niemand würde ernsthaft etwas dagegen unternehmen.

Diese Doppelzüngigkeit ist zu einem ständigen Begleiter auf dieser Reise geworden - das stille Einverständnis mit gelebtem Rassismus, Diskriminierung und Ausbeutung. Gleichzeitig fallen mir Bunga-Bunga und Maria Pisanis Vergleich mit demjenigen ein, der aus einem brennenden Haus gelaufen kommt und von uns dorthin zurückgestoßen wird. Von denen, die fürs Europaparlament kandidieren, sei noch keiner hier gewesen, erzählt Giancarlo. Hier gebe es wohl zu wenige Stimmen zu holen, und er fährt fort: "Europa? Ich werde dir was sagen: Der italienische Staat schuldet unserer (privaten, Anm.) Einrichtung 850.000 Euro, und wir müssen Kredite aufnehmen, um genau diesem italienischen Staat Steuern zahlen zu können. Hier ist kein Europa."

Buon Anno

Zum Jahreswechsel fahren wir nach Agrigent und erleben Silvester anders. Kaum eine Feuerwerksrakete ist zu sehen, dafür knallen viele Böller in den leeren Gassen, über Stunden, und ohne ihr Konzert um Mitternacht zu intensivieren. Auch Kirchenglocken sind nicht zu hören, und durch die Stadt streunen nur wenige Menschen, verstreut, die meisten zielstrebigen Schritts. Einige Afrikaner, von denen manche tagsüber ihren Unterhalt als Straßenhändler oder Fischer verdienen, verirren sich wie wir auf den Platz vor dem Bahnhof.

Kurz nach Mitternacht verliert sich diese kleine Ansammlung genauso zufällig, wie sie sich zusammengefunden hat. Dann kehren wir nach Porto Empedocle zurück, und erst nach ein Uhr beginnt sich die kleine Fußgängerzone mit vielen Menschen zu füllen, die alle zusammen das neue Jahr begrüßen. (Fabian Eder, derStandard.at, 3.1.2014)