Der erste Atomeisbrecher war einst der Stolz der sowjetischen Marine.

Foto: Valdimir Kondratyev, FSUE Atomflot

In Rot und Gold und mit strahlendem Sonnenschein empfängt Murmansk seine Gäste. Es ist, als wolle der goldene Herbst die Menschen noch einmal verwöhnen, ehe hinter dem Polarkreis der lange Winter einzieht mit Eis, Schnee und Dunkelheit.

"Goldener Herbst" ist wohl auch die beste Umschreibung für den Zustand der Stadt selbst: Die trüben Jahre des Verfalls in den 90ern hat Murmansk hinter sich; die Parks sind gepflegt und am Lenin-Prospekt - elementarer Bestandteil jeder russischen Stadt - wird ein riesiges Einkaufs- und Vergnügungszentrum gebaut. Doch der Niedergang geht weiter: Jedes Jahr verliert die Stadt Einwohner.

Ein Grund sei die fehlende Kultur, meint Simon Mraz. Für den österreichischen Kulturattaché in Moskau ein Grund, um mithilfe privater Sponsoren eine Ausstellung moderner Kunst in der Provinzstadt zu organisieren. Der andere Grund heißt Lenin.

Nicht der Lenin mit Kinnbart und hoher Stirn, sondern die Lenin mit 44.000 PS Motorleistung und 134 Meter Länge. Der erste Atomeisbrecher der Welt war einst der Stolz der sowjetischen Marine. Dann rottete das 16.000-Tonnen-Schiff, inzwischen ohne atomaren Antrieb, 20 Jahre lang in Murmansk vor sich hin, ehe es vor vier Jahren in ein Museum umgewandelt wurde. Bis heute hat der Eisbrecher eine eigene Crew und einen Kapitän; auch von seiner Faszination hat er nicht viel eingebüßt. "Ich war begeistert, als ich das Schiff gesehen habe. Es ist nicht nur aus technischer Sicht eine Meisterleistung, sondern erhebt auch ästhetischen Anspruch", sagt Mraz. Teures Mahagoni, edles Leder und große Holzreliefs sollten das Prestigeobjekt schmücken. Insgesamt 23 Künstler aus Frankreich, Österreich und Russland haben sich davon inspirieren lassen, sich daran gerieben und mit den Assoziationen gespielt, die der Eisbrecher bei ihnen ausgelöst hat. Herausgekommen ist ein widersprüchlicher und spannend polyperspektivischer Blick auf Vergangenheit und Gegenwart. So kopiert Taisija Korotkowa in ihrem Gemälde Norden den heroisierenden Stil der Sowjetmalerei, um ihn ins Gegenteil zu verkehren: Ihre "Helden" sind Eisbären, die auf einem Schiffsfriedhof umherwandern, anstelle der Arktis-Eroberer. Nur Hammer und Sichel im Hintergrund künden vom einstigen Ruhm.

Die Vergänglichkeit der Ideale ist auch Thema der jungen Russin Maria Koschenkowa. Ihre bronzene Lenin-Büste, obligatorisches Requisit der Kapitänskajüte, ist halb zersägt und hohl. Die andere Hälfte liegt wie angetautes Eis (Koschenkowa nutzt Glas zur Darstellung) davor. "Es ist zerflossen wie unsere alten Ideale und Idole", sagt sie.

Arktis und Homosexuelle

Auf aktuelle Probleme zielt der Konzeptualist Leonid Tischkow: Seine Taucher sind in einen tödlichen Kampf verwickelt, um eine Flagge auf dem Meeresgrund zu hissen. Der derzeitige Streit um die Arktis und deren Schätze lässt grüßen. Der Videokünstler Marko Lulic fasst unter dem Begriff Winter ein anderes heißes Eisen an: Strawinskis Ballett Frühlingsopfer gewinnt durch den Wechsel des Opfers - statt einer Jungfrau wird in der gefilmten Tanzperformance ein junger Mann getötet - eine neue Dimension. "Die Nachrichten darüber, wie Russland mit seinen Minderheiten umgeht, haben mich auf die Idee zu dem Sujet gebracht", sagt der österreichische Künstler.

Die Lenin bietet sogar Raum für Romantik: Die Französin Cathérine Charreyre versucht die Sehnsüchte der Seeleute einzufangen, als sie sich vor vielleicht 50 Jahren einen Augenblick der Ruhe auf dem Eisbrecher gönnten. Zehn kleine Pappschachteln geben wie durch ein Guckloch Einblick in die Träume der Männer.

Feuer und Eis

Ein Traum war die Ausstellung für Kapitän Alexander Barinow dennoch nicht. Zuerst habe ihn die Idee geschockt, das ehrwürdige Schiff zur Kulisse für moderne Kunst zu machen: "Es ist schwer, Feuer und Eis zusammenzubringen." Inzwischen hat er sich arrangiert, auch weil die Schau der Lenin neue Besucher verspricht. Ein Projekt hat selbst bei ihm das Eis gebrochen: Swetlana Gabowas Collagen, die mit der rationalen Kühle des Schiffs spielen. "Das ist Kunst, die mir gefällt", brummt er. Und so hofft der alte Seebär auf einen neuen Frühling für Murmansk und die Lenin, die als Ausstellungsort zu neuen Ufern aufbrechen soll.

Die Ausstellung ist im Rahmen der 5. Moskauer Biennale für moderne Kunst zu sehen. Anschließend zieht sie weiter nach Linz und New York. (André Ballin aus Murmansk, DER STANDARD, 23.9.2013)