Erkranken die Eltern an Demenz, wandelt sich das Rollenbild für die Kinder. Das ist oft mit Konflikten verbunden, weiß man bei der Angehörigenberatung.

Foto: Standard/Christian Fischer

Vor zwei Jahren wurde bei der Mutter von Ulrike Schwarz eingebrochen. Die Polizei wurde alarmiert, doch in der Wohnung fehlte nichts. Keine Einbruchspuren wurden gefunden. Die Mutter wurde getäuscht. Von ihrem eigenen Gedächtnis. Die ersten Symptome der Demenz zeigten sich.

Zu Beginn versuchte Ulrike Schwarz die Erinnerungslücken ihrer Mutter zu füllen, ihr die Realität vor Augen zu halten. Schließlich überredete sie ihre Mama vorsichtig, zu einem Arzt zu gehen. "Als die Diagnose Demenz schließlich vor uns lag, war es im ersten Moment eine Erleichterung", sagt Schwarz heute. Man wusste nun, dass man es mit einer Krankheit zu tun hatte.

In der ersten Phase noch selbst entscheiden

Diese Erleichterung nach der Diagnose beobachtet auch Sabine Kloibmüller von der Psychosozialen Angehörigenberatung der Caritas Wien. Sie sagt, dass die frühe Diagnose von Demenz wichtig ist, um medikamentöse Therapie und die Vorbereitung zu beginnen. Handelt es sich um Morbus Alzheimer, dann geht die Krankheit schleichend voran, der Betroffene kann in den ersten Phasen noch selbst entscheiden, was mit ihm in Zukunft passieren wird.

Das hat auch Ulrike Schwarz erleichtert. Die Vorsorgevollmacht wurde mit ihrer Mutter gemeinsam erstellt, sie konnte zu diesem Zeitpunkt ihre Wünsche noch selbst formulieren. "Ich bekam das Gefühl, dass ich auch in Zukunft in ihrem Sinne handeln kann", sagt Schwarz.

Fassade wegen Scham aufgebaut

Laut Psychotherapeutin Christine Maieron-Coloni fürchten sich viele Angehörige allerdings davor, die Betroffenen mit ihrer Diagnose zu konfrontieren. Dabei brächte die Gewissheit nicht nur Erleichterung für die Familienmitglieder, sondern auch für die Erkrankten selbst. Viele Betroffene würden versuchen, ihre Vergesslichkeit und Gedächtnislücken zu kaschieren und bauen regelrecht eine Fassade auf, um ihre Scham zu verstecken: "Ist allerdings klar, dass die Betroffenen krank sind, so lassen die meisten ihr Versteckspiel sein, weil sie wissen, was mit ihnen nicht stimmt", sagt Maieron-Coloni.

Auch Schwarz entdeckte nach der Demenzdiagnose die Fassade ihrer Mutter. So ernährte sich die Frau mehrere Wochen lang nur noch von Honigbroten, weil sie sich selbst nichts mehr kochen konnte. "Es ist schwer, wenn man bemerkt, dass die eigene Mutter jahrelange Fähigkeiten verliert", sagt Schwarz. In weiterer Folge musste der Herd abgedreht werden, da die Mutter einmal vergessen hatte, dass sie etwas auf der Platte stehen gelassen hatte. Brandmelder wurden in der Wohnung installiert und ein Schloss eingebaut, das auch von außen geöffnet werden kann, wenn der Schlüssel innen steckt.

Angehörige von Menschen mit Demenz gefährdet

Bei der Angehörigenberatung der Caritas erleben die Expertinnen immer wieder, dass Kinder von Menschen mit Demenz eine schwierige Zeit erleben, weil sich die Rollenbilder wandeln. Das Kind wird zum Elternteil und umgekehrt. Diese Änderung ist oft auch mit starken Streitpunkten verbunden.

"Zwischen Töchtern und Müttern beobachten wir öfter Konflikte, die es bereits seit der Kindheit gibt", sagt Maieron-Coloni. So wäre es schwer, eine liebevolle Betreuungsperson für eine Mutter zu sein, die vielleicht niemals eine liebevolle Mutter für das Kind gewesen ist. Die Psychotherapeutin rät in solchen Momenten, sich durch Gespräche von solchen Schuldgefühlen freizumachen und Hilfe von außen zu holen. Vor allem unter Angehörigen von Menschen mit Demenz sei die Gefahr von psychischen Erkrankungen signifikant höher als bei anderen Krankheitsbildern.

Soziales Netzwerk aufbauen

Obwohl Schwarz ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter hat, war auch für sie schnell klar, dass sie die Betreuung nicht alleine schaffen würde. Sie baute ein großes soziales Netz um ihrer Mutter aus ambulanter Betreuung, Besuchsdienst, Nachbarschaftshilfe und Aufenthalten im spezialisierten Tageszentrum auf. Sie selbst besucht mindestens alle zwei Wochen ihre Mutter, meistens telefonieren sie täglich.

Als sich die nächste Phase der Demenz bei ihr bemerkbar machte, nutze Schwarz auch das Angebot der Angehörigenbetreuung und lernte dort die Technik des Validierens. "Wenn meine Mama an einem Tag nicht weiß, dass sie in ihrer Wohnung ist und will, dass ich sie abhole, dann versuche ich mich dadurch in ihre Lage zu versetzen und ihr zu helfen", sagt Schwarz.

Der Mutter die Angst nehmen

Das bedeutet, dass ihre Mutter ihre Umgebung beschreiben lässt. Wenn sich die Angst vor dem Unbekannten langsam legt, fragt Schwarz schließlich, ob sie sich vorstellen kann, nur eine Nacht in dieser anderen Wohnung zu übernachten. Am nächsten Tag weiß die Mutter meistens wieder, wo sie ist.

So schwer es für Kinder sei, einen Elternteil zu betreuen, umso schwerer sei es für den Partner. Laut Sigrid Boschert von der Angehörigenberatung sind demenzkranke Menschen wie Zeitreisende. Manchmal überspringen sie Jahrzehnte auf dieser Reise aber schlussendlich bleibt ihnen nur noch die Erinnerung an die eigene Jugend und Kindheit.

Ein 86-jähriger Mann erkennt sein eigenes Spiegelbild nicht mehr, weil er denkt, erst 25 Jahre alt zu sein. Seine Ehefrau hält er womöglich für seine Großmutter. "Viele dieser Menschen haben einen Großteil ihres Lebens mit der erkrankten Person verbracht, die sie schlussendlich nicht mehr erkennt", sagt Boschert. Das wäre nur sehr schwer zu verkraften.

Bessere Versorgung gefordert

Um Betroffenen und auch Angehörigen zu helfen, fordert die Boschert und ihre Kolleginnen deshalb eine Enttabuisierung des Themas in der Gesellschaft und eine bessere Versorgung der erkrankten Menschen. In Österreich leiden derzeit rund 100.000 Menschen an der Krankheit. Das Risiko, an Demenz zu erkranken, steigt mit dem Alter. Weil die Gesellschaft immer älter wird, rechnen Experten damit, dass es bis zum Jahr 2050 doppelt so viele Betroffene geben wird.

Ein nationaler Demenzplan soll helfen, Projekte und Initiativen künftig finanziell zu unterstützen. Zwar gebe es laut Kloibmüller in Wien bereits einige Angebote, die speziell auf die Bedürfnisse von demenzerkrankten Menschen abgestimmt sind, doch seien es immer noch zu wenige. Vor allem in Pflegeheimen müssten Betroffene in Kleingruppen und dem Stadium ihrer Demenz entsprechend gefördert und unterstützt werden.

Auch die Möglichkeit, für ein paar Stunden oder ein Wochenende eine Betreuung zu erhalten, damit Familienmitglieder ein wenig Zeit für sich genießen können, müsste geschaffen werden. Zurzeit könnte man nur zwischen einer 24-Stunden-Betreuung und einem Besuchsdienst wählen.

Freizeitfahrtendienst nur für Körperbehinderte

Dabei weiß Schwarz, dass viele Betroffene nicht einmal diese Wahlfreiheit erhalten. Das Pflegegeld würde die notwendigen Maßnahmen nicht decken und für eine 24-Stunden-Betreuung zu in der eigenen Wohnung benötigt man ein hohes Einkommen, da man vom Staat nur Zuschüsse erhält. Auch praktische Dinge wie der Freizeitfahrtendienst sollten laut Schwarz für demenzkranke Menschen geöffnet werden.

Im Moment ist das Fahrtenservice des Fonds Soziales Wien nur für schwer körperbehinderte Menschen verfügbar. "Dabei würde so ein Angebot meiner Mama helfen, ihre Freundinnen zu besuchen und soziale Kontakte außerhalb des Tageszentrums aufrecht zu erhalten", sagt Schwarz. Denn schlussendlich sei ihre Mutter ein fröhlicher und aktiver Mensch. Das dürfe man nicht vergessen. (Bianca Blei, derStandard.at, 6.9.2013)