Im vorigen Jahrhundert kamen erst die verarmten Bauern und dann die Weltkriegsflüchtlinge aus Europa, um sich in Lateinamerika eine neue Existenz aufzubauen. Zwischen 1850 und 1950 zog es elf Millionen Europäer nach Lateinamerika – besonders Argentinien und Brasilien förderten die europäische Einwanderung. Jetzt kriselt es in Europa erneut, und die nächste Auswanderungswelle schwappt nach Lateinamerika.

Diesmal sind es vor allem gut ausgebildete junge Akademiker aus Portugal, Spanien und Frankreich. Leute wie Moisés Iglesias. Der junge Ingenieur aus Spanien hat 2008 in Mexiko bei einem Autozulieferbetrieb eine Anstellung gefunden und Frau und Kind gleich mitgebracht. "Wir fühlen uns hier sehr wohl und sehen mehr Perspektive als in der Heimat", sagt er. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die spanische Migration nach Lateinamerika verdreifacht.

Aus Portugal sind derweil zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ausgewandert. Zwischen der einstigen Kolonialmacht und seiner Exkolonie Brasilien hat sich das Verhältnis umgekehrt: Der Weltbank zufolge überweisen portugiesische Auswanderer inzwischen mehr Geld zurück in die Heimat als brasilianische Gastarbeiter in Portugal verdienen.

Gerade Brasilien ist ein Magnet für die Auswanderer: Die boomende Wirtschaft sucht händeringend nach Fachkräften, die das eigene Bildungssystem nicht genügend hervorbringt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei nur fünf Prozent.

Boomendes Lateinamerika

"Wir sind eine Insel des Wohlstandes, das ist für viele attraktiv", sagt Ricardo Paes stolz, Koordinator für Migrationsfragen im Ministerium für Strategische Angelegenheiten. Seit 2010 hat Brasilien jährlich 30 Prozent mehr Arbeitsgenehmigungen erteilt; in Chile stieg die Zahl gar um 46 Prozent. Auch das schnell wachsende Peru ist für Auswanderer attraktiv.

Doch ein leichtes Spiel haben die Europäer nicht. In den vergangenen Jahrzehnten hat es zwischen dem Rio Bravo und Feuerland Fortschritte im Bildungssystem gegeben; Hochschulen wie die Bundesuniversität von São Paolo oder die Autonome Mexikanische Nationaluniversität finden sich im Spitzenfeld der internationalen Hochschulrankings. Die Konkurrenz um gute Posten ist groß, und im Zweifelsfall bekommen Einheimische den Vorzug.

Für Europäer gibt es oft große Hürden zu überwinden, die schon bei der Einwanderungsbürokratie beginnen und bei der Anerkennung der Abschlüsse weitergehen. Nicht alle Berufszweige sind gefragt. Ganz oben auf der Liste der Headhunter stehen Manager, Architekten und Ingenieure. Auch Börsenmakler, Webdesigner und Wissenschafter haben Chancen. Wer nicht oder das "Falsche" studiert hat, tut sich schwer – außer er hat ein bisschen Kapital.

Das sind einige, wenn man die Zahl spanischer Tapasbars, deutscher Bäcker und Metzger oder portugiesischer Konditoreien in Mexiko-Stadt, São Paolo und Buenos Aires sieht. Auch Handwerker haben gute Chancen. Alle anderen schlagen sich mehr schlecht als recht durch: Häufiger als bisher sieht man europäische Scheibenputzer und Straßenmusikanten. (Sandra Weiss aus Puebla, DER STANDARD, 27.8.2013)