Bildpoesie, die einen rundum umfängt: "Schneewittchen" am Landestheater Salzburg. 

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Nicolas Liautard.

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STANDARD: Sie sagten einmal, bis auf Drogendealen würden Sie alles tun, um Ihr Theater zu verwirklichen. Was macht Theater so faszinierend für Sie?

Nicolas Liautard: Es tut mir leid, aber: Es ist nicht faszinierend, sondern schlicht sehr viel und sehr harte Arbeit. Wir geben zwischen 60 und 80 Aufführungen im Jahr, touren in Frankreich von Stadt zu Stadt. Ich bin kein Regisseur, der dasitzt und Anweisungen erteilt. Ich mache das Bühnenbild, die Kostüme, schleppe schweres Zeugs, fahre den Truck.

STANDARD: Wie finden Sie Ihre Theaterstoffe? Durch Zufall?

Liautard: Nein. Ich befrage mich ständig selbst. Alles, was ich am Theater mache, hat mit meinem Leben zu tun.

STANDARD: Wie entstand die Idee zu "Schneewittchen"?

Liautard: Ein Freund aus Marseille bat mich, Taufpate seines Sohnes zu sein. Bei dieser Gelegenheit traf ich auch seine Tochter wieder, die ich zuletzt gesehen hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Nun war sie fast schon eine schöne junge Frau - und ich spürte daraus resultierende Spannungen zwischen ihr und ihrer Mutter. Ich dachte, das ist wie Schneewittchen.

STANDARD: Ihr Schneewittchen ist ein Märchen ohne Worte.

Liautard: Es ist eine der Geschichten, die man Kindern vor dem Einschlafen erzählt. Es gibt also nur Worte, keine Bilder. Die entwickelt das Kind, wenn es langsam die Augen schließt, in seiner Fantasie. Wir machen das genaue Gegenteil: nur Bilder, keine Worte. So als ob wir uns im Kopf des Kindes befänden, während ihm jemand die Geschichte erzählt. Jeder Zuschauer kann sich all das, was wir nicht erzählen, selbst ausdenken.

STANDARD: Was kommt bei Ihrer Arbeit zuerst: Inhalt oder Bilder?

Liautard: Das ist unterschiedlich. Am Beginn von Schneewittchen stand meine eigene Erinnerung. Ich wollte den Text nicht wieder lesen, sondern stöberte nur in meinen Erinnerungen. Bei einigem war ich mir nicht sicher - und genau dieses Nicht-sicher-Sein interessierte mich. Also fragte ich Freunde nach ihren Erinnerungen, und alle erzählten mir eine andere Geschichte. Dieses Fließende, Verschwommene fand ich spannend. Das ist das Leben. Sonst wäre es Schule. Ich möchte aber kein Lehrer sein, der allen erklärt, wie es geht. Das Problem ist, dass man die Dinge immer intellektuell verstehen möchte. Aber Theater ist kein Frontalunterricht, wo die Kinder folgsam zuhören, um es "richtig" zu verstehen.

STANDARD: Wie lange arbeiten Sie an einer Produktion wie "Schneewittchen"?

Liautard: Bei Schneewittchen waren es exakt zwei Wochen. Ich hatte alles im Kopf, das Bühnenbild, den Sound, das Licht.

STANDARD: Machen Sie Stücke lieber für Kinder oder Erwachsene?

Liautard: Beides, aber ich liebe es sehr, für Kinder zu spielen, sie sind so offen. Ich habe erst zwei Stücke gemacht: Schneewittchen und Das Mädchen mit den Schwefelhölzern - auch ohne Worte.

STANDARD: Aber für Erwachsene verwenden Sie immer Sprache?

Liautard: Ja, Erwachsene brauchen eine Erklärung, Kinder nicht. Die haben eine viel größere Vorstellungskraft.

STANDARD: Was planen Sie als Nächstes?

Liautard: Wir proben Le Mépris (Die Verachtung) nach Godard. Ich schreibe verschiedene Texte, die Schauspieler können sich an jedem Abend für einen anderen entscheiden. Das ist auch für uns eine völlig neue Art zu arbeiten, wir wollen etwas entwickeln, was wirklich live ist.

STANDARD: Warum ausgerechnet Godards "Verachtung"?

Liautard: Mich faszinierte, wie Godard sich die Freiheit nahm und sich vom Buch löste. Ich dachte: Er hat recht! Genau das sollten wir auch tun. Wir sagen jetzt: Es ist nicht Kino, es ist Theater. Und das Spezielle und Faszinierende am Theater ist das Live-Erlebnis.

STANDARD: Nun haben Sie also doch noch gesagt, was Sie am Theater fasziniert: dass es live ist.

Liautard: Natürlich. Aber das ist das Faszinierende am Leben überhaupt. Ich will aber nicht bis an mein Lebensende Theater machen. Es ist Schwerarbeit! Ich möchte auch noch ein anderes, naturverbundeneres Leben führen. Ich habe mir ein Haus auf Sardinien gekauft, dort will ich gärtnern, Bienen züchten, eigenen Wein keltern, der Natur und den Menschen näher sein. (Andrea Schurian, DER STANDARD, 17./18.8.2013)