Radikales Bildertheater von Romeo Castellucci: Schüler bewerfen das Jesus-Bild mit Handgranatenattrappen.

Foto: Klaus Lefebvre

Wien - Die verwirrendste Erscheinung in der Theaterproduktion "Sul concetto di volto nel figlio di Dio" (Originaltitel) ist nicht religiöser, sondern spiritueller Natur. In der Tiefe des Burgtheaters prangt das von Antonello da Messina gemalte, überhohe Antlitz Jesu Christi: ein schön geschnittenes Gesicht aus dem 15. Jahrhundert als vergrößerter Bildausschnitt.

Der durchdringende Blick geht über das zutiefst menschliche Geschehen auf der Bühne generös hinweg. Ruhig blickt der hochmittelalterliche Jüngling jedem Festwochen-Gast in die Augen. Dieser gewahrt eine einfache, rührend-demütigende Szene. Ein zitternder alter Mann (Gianni Plazzi) im Frotteeschlafrock kann seinen Stuhl nicht halten. Sein Sohn (Sergio Scarlatella), der im Begriff steht, zur Arbeit zu gehen, muss wiederholt kehrtmachen, um dem Greis die Windel zu wechseln und das Gesäß zu wischen.

Der italienische Bildertheatermacher Romeo Castellucci hat im Verein mit seiner Socìetas Raffaello Sanzio an keinem Detail gespart. Die Tragödie des Alterns wird spartanisch sachlich erzählt. Der leicht zu entsorgenden Papierwäsche entströmt der enervierende Duft von Kot und reifer Leiblichkeit: ein Meisterwerk olfaktorischer Requisitenkunst.

Dieser Kreuzweg zwischen beschmutzter Couch, Tablettentisch und Gehhilfe mündet, dem Jesus-Bild sei Dank, in einen schwierigen Appell. Wie gut, verehrter Festwochen-Gast, ist es um deine Hilfsbereitschaft bestellt? Immerhin blickt einem Gottes Sohn in die Augen. Mit welchem der beiden Aspekte hält man es? Begibt man sich lieber auf die Seite des Schwamms, oder enthält die Windel schon die Essenz der "conditio humana"?

Castelluccis radikales Bildertheater handelt tatsächlich vom Riss, der durch die Welt geht. Es ist von entwaffnender Spiritualität, und es fragt nach einem Sinn jenseits religiöser Dogmen. Dies muss so umso mehr betont werden, als sich etwa zur Mitte der Aufführung hin bei der Premiere ein Proteststurm erhob.

Der Alte hat mit einem Kanister Fäkalien nachgeholfen, sein Bett zu verwüsten - ein Hinweis auf die Künstlichkeit der Spielanordnung. Im ohrenbetäubenden Lärm der Tonspur (Scott Gibbons) werden Turnsaalgeräusche hörbar. Ein Grundschüler mit Basketball betritt die Bühne. Er leert seinen Rucksack aus und beginnt, Antonellos Bild mit Handgranatenattrappen zu bewerfen. Eine Schar Mitschüler tut es ihm gleich. Der Explosivlärm schwillt an und reißt auch die Protestkundgebung mit sich in den Orkus.

Der Sohn (Scarlatella) hatte vorher noch die Arme liebeheischend an das Jesus-Plakat geschmiegt: in Mundhöhe, wie um den Mensch gewordenen Gottessohn zur Preisgabe seiner Frohbotschaft zu bewegen. Es sind dies Momente von zorniger, spekulativer Pracht. Castelluccis Theater inszeniert säkulare Messen, gespeist aus den Tiefen spiritueller Einbildungskraft. Die Ernsthaftigkeit des Mannes aus Cesena ist atembenehmend. Er zerreißt das Jesus-Bild der Länge nach, nur um ein zweites, tieferes freizulegen. Auf diesem perlt frisches Blut. Mit seinem endgültigen Erlöschen tritt das Universum schwarz zutage. Eine Schrift wird in Druckbuchstaben lesbar: "You are my shepherd", das "are" alsbald gefolgt von einem "not".

Jeder wird für sich entscheiden müssen, ob Castelluccis Pein und Zorn es verdienen, niedergebrüllt zu werden. Die Protestierer waren zu Ende des unbehaglichen, großartigen Abends kleinmütig verstummt. Theater zur Zeit, im Blickkontakt mit der Ewigkeit. Nach Protesten in Paris, Berlin und anderswo hat jetzt auch Wien etwas ästhetische Kleingläubigkeit beigesteuert. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 13.5.2013)