Leo Hemetsberger, Philosoph und Unternehmensberater.

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Was ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen der antiken und der mittelalterlichen Philosophie und jener der Neuzeit? Es ist die Stellung und Bedeutung des Individuums. Das Ich, der Einzelne mit seinen Talenten wurde zum neuen Zentrum, von dem aus die Welt erforscht und beherrschbar gemacht werden sollte. Ohne eigenverantwortliche Subjekte wären all die komplexen Prozesse im heutigen Wirtschaftsgeschehen nicht möglich.

Zuerst wurden philosophisch jene Grundlagen festgelegt, etwa durch Francis Bacon (1561-1626), welche die Naturwissenschaften und damit unsere modernen Weltvorstellungen möglich machten. Erst wenn wir wissen, wer wir sind, können wir unsere Möglichkeiten zur Welterfassung und -gestaltung ermessen und darauf aufbauend planend handeln. Dieser Emanzipationsprozess von historisch vorgegebenen Traditionen, denen man sich unterzuordnen hatte, führte durch die produktiven Krisen der Aufklärung dazu, dass wir uns heute als freie, "talentierte" Individuen fassen können, bis hin zu extrem egoistischen Positionen, wenn wir das wollen. Viele ängstigen sich aber auch heute noch vor den Unsicherheiten relativistischer und bevorzugen dogmatische Ansätze, sie suchen Sicherheiten, obwohl diese nur um den Preis individueller Freiheiten zu erhalten sind.

Descartes und die philosophische Neuzeit

Rene Descartes (1596-1650) hat das Tor zur philosophischen Neuzeit für uns aufgestoßen. Als gebürtiger Franzose verbrachte er viele Jahre in den damals toleranteren protestantischen Niederlanden und entwarf methodische Ansätze, die auch heute noch gültig sind - etwa nichts für wahr zu halten, was nicht so klar und deutlich erkannt ist, dass es nicht in Zweifel gezogen werden kann; man solle immer skeptisch bleiben; schwierige Probleme sind in Teilschritten zu erledigen, das heißt, zu analysieren; Konstruktion bedeutet, vom Einfachen zum Schwierigen fortzuschreiten; und schließlich solle stets geprüft werden, ob bei Untersuchungen Vollständigkeit erreicht ist.

In seinen "Meditationes" führte er alle Erkenntnis durch radikalen Zweifel auf neue Grundlagen zurück. Nur im Bereich des Denkens gibt es nach ihm sicheres Wissen, alles Körperliche bleibe dem Irrtum verhaftet. Das von Descartes abgeleitete "Ich denke, also bin ich" ist der Angelpunkt der neuzeitlichen Ich-zentrierten Philosophie. Was das Talent betrifft, sieht sich Descartes durch die Anlagen seiner Eltern bestimmt, wesentlich ist ihm jedoch sein Ich. Als Körperlicher bleibe er ein unvollständiges, von einem anderen abhängiges "Ding, das nach Größerem oder nach Besserem ohne Ende strebt", doch er sieht sich von einem Höheren abhängig, von Gott.

Leib-Seele-Problem

Descartes entwarf auch eine Idee, wie Bewusstsein/Gehirn und Körper zusammenwirken, die bis heute in den materialistisch-mechanistischen Theorien nachwirkt. Allgemein gesprochen orientierten sich diese Thesen zum Leib-Seele-Problem im Lauf der Geschichte stark an den jeweils fortschrittlichsten Werkzeugen, die die Menschen hervorgebracht hatten. Im 17. Jahrhundert waren das mechanische Automaten wie Uhren. Für Descartes funktioniert der menschliche Körper als eine über nervliche und muskuläre Seilzüge gesteuerte Maschine, der Geist könne sich davon beeinflussen lassen, müsse es aber nicht, denn der Wille sei unsere stärkste Kraft, stärker noch als der gottgegebene Verstand, der sich in seinem Streben nach Erkenntnis, gerade wenn er vom Sinnliche ausgeht, so oft irrt.

Rousseau und die Verbesserung der Welt

Mit seinem Nein auf die Frage der damaligen Akademie von Dijon, ob die Wissenschaft und Künste die Menschen besser machten, trat der französische Denker Jean Jacques Rousseau (1712-1778) erstmals öffentlich als Philosoph und Visionär einer modernen Gesellschaft in Erscheinung. Der Mensch sei von Natur aus gut, im Gegensatz zur kirchlichen Lehrmeinung, die sich auf die Erbsünde beruft. Nach Rousseau macht die Gesellschaft den Menschen selbstsüchtig, nur in den Kindern sei unser eigentliches gutes Wesen wirklich. Der Mensch und die Gesellschaft hätten aber die Fähigkeit, sich zu verbessern. Diese "Perfektibilité" ist unter anderem ein Schlüssel zum Verständnis der damals so begeisternden Kraft der Aufklärung.

Die Welt lässt sich also in eine bessere verwandeln. Das könne, so sagt er, über die Erziehung erreicht werden. Jeder Mensch würde dann seine Talente am besten entwickeln, wenn er hierbei frei von gesellschaftlicher Beeinflussung draußen in der Natur heranwachse. Rousseau war durch sein Buch "Vom Gesellschaftsvertrag" nicht nur einer der Vorväter der Französischen Revolution, sondern durch seine Naturverherrlichung im Erziehungsroman "Emil" auch einer der Romantik.

Kants Idee der Anlage der Talente

In seinem Werk sieht Immanuel Kant (1724-1804) sich stark von Rousseau beeinflusst. Er schrieb: "Talent ist diejenige Vorzüglichkeit des Erkenntnisvermögens, welche nicht von der Unterweisung, sondern der natürlichen Anlage des Subjekts abhängt." (Kant, Antropologie I, § 52) Hier argumentiert er im Sinne der natürlichen Prädisposition, die eine tragende Rolle spielt.

Albert Einstein etwa war schon in der Schule ein sehr guter Mathematiker und Physiker und als Musiker ein leidenschaftlicher Violinist. Er konnte es aber nicht zu der für einen Spitzengeiger notwendigen artistischen Fingerfertigkeit bringen. Dazu fehlte ihm die Anlage.

Kant differenziert den Begriff der Anlage noch weiter. Neben der schon gehörten technisch-mechanischen zur Handhabung der Sachen gibt es weiters die pragmatische, nämlich andere Menschen zu seinen Absichten geschickt zu gebrauchen. Da denken wir heute an die Soft Skills, um etwa die emotionale und soziale Kompetenz zu fördern.

All den "Skills" zugrunde liegt, weil wir gerade bei Kant sind, aber die moralische Anlage, nach dem Freiheitsprinzip unter Gesetzen gegen sich und andere zu handeln. Das ist der kategorische Imperativ: Du sollst nie einen Menschen als bloßes Mittel, sondern immer als Selbstzweck betrachten. Nach diesem Ideal sollen sich im Grunde auch die Codes of Conduct in Unternehmen richten, ob es die Führungskräfte betrifft, die Mitarbeiter in ihrem Verhalten zueinander und gegenüber den Kunden sowie aller zu den Stakeholdern.

Hegel - der letzte Systematiker

Georg F. W. Hegel (1770-1832) war der letzte "Systematiker" mit dem Anspruch, die philosophischen Wissenschaften umfassend zu entwickeln. Er definierte Talent "als die bestimmte ursprüngliche Individualität, betrachtet als inneres Mittel oder Übergang des Zwecks zur Wirklichkeit" (Hegel, Phänomenologie des Geister, (1807), stw 603, S. 297). Gelinge dies dem Individuum, dann erreiche es seinen Zweck und würde "nur Freude an sich erleben". Auch hier liegt die Betonung auf dem Tätigsein, und das positive Menschenbild der Aufklärung scheint noch stark durch. Indem der Mensch, was er an sich ist, für sich wird, hat er Wirklichkeit. Das gelinge durch Bildung. Was an ihm ist, wird durch diese Entfremdung für ihn. Er ist in diesem anderen seiner bei sich, so ist er frei.

Wundt: Die Psychologie als Wissenschaft

Wilhelm Wundt (1832-1920) war Begründer der philosophischen Physiologie und der modernen Psychologie als Wissenschaft. Hier trennten sich die neuen Disziplinen von der philosophischen Anthropologie ab. Es besteht seiner Ansicht nach ein angeborenes Talent "mindestens in gleichem Maße in der Anlage zur Ausbildung gewisser Assoziationsbeziehungen wie in der Begünstigung von zusammengesetzten Bewegungsformen. In allen diesen Fällen ist aber daran festzuhalten, dass nur die Anlage, nie aber die fertige Leistung angeboren sein kann; es bedarf der Einübung, durch die es (das Individuum) erst die Fertigkeit sich wirklich aneignet, die durch seine angeborene Beschaffenheit begünstigt wird; es ist die Gesamtanlage, die ihm infolge der besonderen Richtungen sowohl seiner Phantasie- wie seiner Verstandesbegabung eigen ist." (Wundt, Gr. d. Psych. 5, S. 324) Wundt differenziert vier Hauptformen des Talents: beobachtendes, erfinderisches, zergliederndes und spekulatives.

Les fleurs du mal

Diese bisher durchwegs affirmativ-positiven Zugänge zum Begriff des Talents treten in den folgenden philosophischen Strömungen des späteren 19. Jahrhunderts in den Hintergrund, etwa im nach Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche oder Stirner aufkeimenden Nihilismus und radikalen Individualismus, sowie dem später daraus hervorgehenden Existenzialismus. Spannend und erwähnenswert sind hier auch die subjektkritischen Ansätze im 20. Jahrhundert etwa bei Foucault und Lacan, denn wenn das Subjekt nur ein Konstrukt ist, stellt sich die Frage, wessen und im Hinblick auf welche vorgegebenen oder gewünschten Muster diese Konstruktionen stattfinden und wo hier dann noch von persönlicher Freiheit die Rede sein kann.

Mit diesen Positionen rückt auch das früher oft ausgeblendete Scheitern als implizites Moment der Conditio Humana mit in den Fokus, und das ist wichtig. Die Herausforderung an den Einzelnen und seine Talentfähigkeit, sowie daraus abgeleitet das unbedingte Findenmüssen und Fördernsollen von utilisierbaren Talenten kann zur strukturellen und existenziellen Überforderung führen, vor allem wenn der Sinn, das Wozu dahinter nicht greifbar ist.

Ein sehr talentierter junger Mann in meinem Bekanntenkreis musste auf Drängen seines Vaters, der sein Talent erkannt hatte, eine professionelle Organistenausbildung absolvieren, er legte sogar die schwierige Abschlussprüfung mit Auszeichnung ab, hat das Instrument aber nachher nie wieder angegriffen. Er studierte Medizin und wurde lieber Anästhesist.

Und überhaupt darf man als Mensch auch untalentiert sein, ohne dass damit die Würde des Einzelnen in Frage gestellt wäre. Hinter der Suche nach den Besten qua Talentiertesten schimmert auch eine Tendenz zur Auswahl und damit Eugenik durch. Dass nur den Tüchtigen die Welt gehöre haben wir hoffentlich endgültig abgehakt und Malthus demografische Katastrophenszenarien sind, sowie die vieler anderer, widerlegt.

Die nur vermeintlich Schwachen und, aus Sicht der so genannten Erfolgreichen, Bedürftigen leisten in ihren Kreisen ebenso Wirksames, wie die im Kontexts des aufgeheizten Wirtschaftsgeschehen gehypten Best Performer - aufgrund welcher Parameter, die man verallgemeinern können sollte, sind sie das eigentlich?

Im Übrigen soll man sich nicht behaupten müssen. - Wird fortgesetzt. (Leo Hemetsberger, derStandard.at, 3.4.2013)