Leo Hemetsberger, Philosoph und Unternehmensberater.

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Philosophen sind so etwas wie die Spezialisten des Generalisierens. Sie stellen grundsätzliche Fragen, oft auch unangenehme, denken wir etwa an Sokrates, der den scheinbar Wissenden dabei half, ihre Vorannahmen zu reflektieren. Er selbst hatte ja von sich behauptet, "oída ouk eidós" - er weiß, dass er nicht weiß. Damit ist er achtsamer als diejenigen, die vorgaben etwas zu wissen, aber nach eingehender Befragung zugeben mussten, dass sie sich selbst wohl darüber getäuscht hatten. Ein Weg philosophischer Untersuchungen ist, platonisch gesprochen, die Entwicklung der Erkenntnis von der Entlarvung des Scheinwissens über das bewusste Nichtwissen hin zum Streben nach Weisheit, als Wissen um das Gute überhaupt und das Gute einer Sache.

Interdisziplinarität

Für Fachwissenschaften oder spezielle Berufsfelder bieten philosophische Zugänge die Möglichkeit, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken, heute spricht man von Interdisziplinarität oder Crossover. Vernetzte Zugänge und ungewohnte Querschüsse helfen dabei, neu zu bestimmen, was das eigentlich ist oder bedeutet, womit man im Alltagsgeschäft einfach operiert oder was nach Vorgaben exekutiert wird. Das soll dort helfen, wo man sonst möglichst im gesteckten Rahmen bleibt, um schnelle Lösungen zu ermöglichen, weil es funktionieren muss. Nur, wer sich beschränkt, um effizient zu sein, schließt vieles aus, was im weiteren Zusammenhang bedeutsam werden kann. Philosophie dagegen verlangsamt, erfordert Muße, also etwas, das heute Mangelware ist - Zeit - sie widerspricht und trägt so mit zur Klärung bei, hilft beim Einbeziehen weiterer Umstände.

Was ist das Unterscheidungskriterium zwischen Traum und Wirklichkeit? Die Kausalität. Was löst die babylonische Begriffsverwirrung? Die Dialektik. Jeder Begriff beruht nur scheinbar auf seiner Definition. Diese Definition schließt anderes aus. Damit ist zugleich ein Verhältnis zu diesem anderen bestimmt, das mit berücksichtigt werden soll, damit der so gewonnene Begriff nicht auf seinen immanenten Widersprüchen aufläuft. Klare Bedeutung wird meist mit dem Begriffspaar "entweder – oder" assoziiert. Philosophische Zugänge öffnen aber neue Blickwinkel auf Gewohntes. Die konkretere Lösung steht daher unter der Prämisse des "sowohl als auch", ohne dass damit eine Beliebigkeit gemeint ist, im Gegenteil, jeder Begriff erweist sich als seine immanente Prozessualität. Dazu kommt noch der Blick auf seine historische Entwicklung, die sich oft in gegensätzliche Positionen ausgelegt hat, was zu spannenden Bedeutungsverschiebungen führt. Mit einem Blick auf die historische Reflexion des Begriffs Talents möchte ich heute beginnen.

Antike philosophische Positionen

Talent (von lat. talentum, gr. talanton. Waage, Gewicht vgl. auch Matth. 25,15ff. das Gleichnis der genutzten oder vergrabenen Talente), war antikes Zahlungsmittel und bestimmtes geistiges Vermögen.

Heraklit (540-475 v. Chr.)

Am Anfang der europäischen Philosophiegeschichte sagte er, (populär verkürzt): "Du steigst nie zweimal in denselben Fluss." Veränderung gehört zum Sein, macht es wesentlich aus. Nichts bleibt wie es ist, alles ist ein Ergebnis der Entwicklung widersprüchlicher Vorgänge. Das trifft auch da zu, wo ein Talent zur Wirkung kommen kann oder nicht. "Alles, was zustande kommt, geht auf Mühe und Notwendigkeit zurück", meinte er in einem anderen Fragment. Die Mühe weist auf den Willen und die mit der Realisierung verbundenen Anstrengungen hin, die Notwendigkeit zeigt auf die Rahmenbedingungen, die sich aus der Sache, den Möglichkeiten des handelnden Subjekts oder vom angestrebten Ziel her ergeben.

Demokrit (460-371 v. Chr.)

"Es werden mehr Menschen durch Übung tüchtig als durch Naturanlagen", ist uns durch das Fragmente 242 überliefert. Damit wird das Gegensatzpaar, um das sich der Begriff des Talents in vielen der folgenden Ansätze und deren kritischer Betrachtung dreht, ausgesprochen. Durch seinen komparativen Vergleich steht Demokrit auch am Anfang einer langen Reihe von Experten, z.B. späteren Theoretikern der Pädagogik, die den platten Gegensatz von Natur und Kultur, oder modern salopp formuliert, "Gen or Brain" dadurch aufheben, dass im Tun die Anlage erst durch beharrliche Übung zu dem werden kann, was implizit enthalten war.

Sokrates (469-399 v. Chr.) und Platon (427-347 v. Chr.)

Sokrates fasste sein Philosophieren, die Liebe zur Weisheit als Hebammenkunst, Mäeutik auf. Er wollte die vorhandenen Anlagen junger Menschen im ironischen Gespräch provokant heraus kitzeln und die angeblichen Fähigkeiten und Kenntnisse damaliger Führungskräfte, etwa von Feldherrn hinterfragen. Von Sokrates selbst sind keine Schriften überliefert, er tritt als Gesprächspartner in den platonischen Dialogen auf, ob das aber seine eigenen Standpunkte waren, kann heute nicht mehr sicher gesagt werden. Hinterfragen und Fördern wollte er,  und da sind wir schon nahe bei dem, was modernes Talentmanagement auch beabsichtigt, sei es um durch nachwachsende firmeninterne Fachkräfte Personalreserven abzusichern (wo schlummern die High Potentials...), oder mittels Ausschreibung und Rekrutierung offene Schlüsselpositionen im Unternehmen zu besetzen.

Platon rekonstruierte im Dialog Politeia unter anderem den antiken Staat im Rückblick auf die antike Polis in idealer Weise. Er lebte mit Sokrates in einer Zeit, wo die ursprünglichen Verständnisse der Stadtstaatkonzepte als Traditionen durch das Bewusstsein ihrer historischen Entwicklung brüchig wurden, bei gleichzeitiger Herausbildung protowissenschaftlicher Ansätze durch die Sophisten und Philosophen, die das so kritisierte mythologische Weltbild verblassen ließen. Die polytheistische Theokratie zerbröselte langsam und die Selbstversuche attischer Demokratie mit ihren Höhen und Tiefen öffneten pluralistischeren Standpunkten Räume.

Die richtige Bildung

Platon beschäftigte sich etwa mit der Frage der richtigen Bildung im Sinne der Gemeinschaft. Ich zitiere aus dem Zusammenhang gerissen: "Von Natur ist keiner dem anderen völlig gleich, jeder hat verschiedene Anlagen. Besser wird der, der eine Sache macht, als der, der viele Künste kann. Von Anfang an ist Prägung wichtig, (d.h. die richtige Bildung). Es ist wichtig, von klein auf zu üben. Die Nachahmung führt zur Gewohnheit, diese wird zum Habitus, (zur Haltung). Es soll eine Auswahl der geeigneten Naturen für eine Aufgabe stattfinden." (Politeia, 370 st f)Im platonischen idealen Staat gilt der Grundsatz der Arbeitsteilung. Der Staat bestehe um der Gerechtigkeit (dikaiosýne) willen, ist gegliedert in den Handwerker- und Bauernstand. Dem entspricht der Bereich der heutigen Wirtschaft (deren Tugend sei die sophrosýne, das Maßhalten, die Besonnenheit), dem Stand der Wächter, die die Sicherheit nach innen und außen gewährleisten sollen (deren Tugend heißt andréia, der Mut, die Tapferkeit) und schließlich die Philosophenherrscher (philosophia, die Liebe zur Weisheit), welche in der Lage sein sollen, im Sinne des Allgemeinen zu denken und zu handeln, und die nicht ihre subjektiven Bedürfnisse (Geld oder Machtstreben) in den Vordergrund zu stellen haben.

"Jeder das Seine, jedem das Seine"

In diesem Grundsatz unterscheidet er Rechte und Pflichten, die aus den Fähigkeiten folgen. Es gibt eine Ordnung nach Ständen, aber er spricht auch für ein gewisses Maß an Freiheit zur Entfaltung der persönlichen Anlagen. "Untüchtige Nachkommen werden in einen niedrigeren Stand überführt und tüchtigere sollen in den entsprechenden Stand aufgenommen werden; (423 st f) jeder soll dem Beruf zugeführt werden, den die Natur ihm bestimmt hat." Die Durchlässigkeit des sozialen Gefüges für Talente ist bei ihm also prinzipiell möglich, im Gegensatz etwa zur undurchdringlichen Grenze der Kaste im erst später festgeschriebenen indischen Vrana - Gesellschaftskonzept. Die individuelle Freiheit und die Betonung der subjektiven Bedürfnisse sind bei Platon aber noch nicht im uns gewohnten Maß gegeben. Ihre Zeit bricht erst im späteren Christentum und daraus folgend der Aufklärung an. Es gibt im platonischen Ansatz auch viele sehr problematische Punkte (Popper hatte zurecht mit Dringlichkeit darauf hingewiesen), die einer heutigen Kritik nicht standhalten, weil die Menschen- und Gesellschaftsbilder weiterentwickelt wurden. Philosophische Schriften sollten immer hermeneutisch, aus dem historischen Bedeutungshorizont heraus betrachtet werden, um sie nicht misszuverstehen. Dass es Wahlmöglichkeiten geben soll und die Bürger in der Gemeinschaft gemäß ihres zu entwickelnden Talents und nicht nach ihrer Gebürtigkeit oder Zugehörigkeit zu bestimmten Klassen einzusetzen sind, war für (nur?) damals aber ein revolutionäres Moment.

Aristoteles (384-322 v. Chr.)

Er war Schüler Platons und Lehrer Alexander des Großen, aus seinen Ansätzen möchte ich auf das dialektische Begriffspaar zur Fassung von Entwicklung hinweisen: dynamis, der Potenz oder Möglichkeit, und enérgeia, der Wirklichkeit bzw. Wirksamkeit. Entwicklung ist bei ihm der Übergang vom Ansichsein zum Fürsichsein. Etwas ist noch nicht, kann aber werden, denken wir an den Dynamo beim Fahrrad. Solange ich nicht in die Pedale trete, habe ich kein Licht, keine Energie. An sich ist die Anlage vorhanden, das Vermögen, die dynamis. Diese reale Möglichkeit geht im Tätigsein, der enérgeia, lat. actus, in Wirksamkeit und so zur Wirklichkeit über. Frei ist nach Aristoteles, was ohne äußeren Zwang und durch Selbstbestimmung geschieht. Was ist das Gute, das der Mensch anstreben soll? Es ist die Mitte, das Tätigsein (Enérgeia) der Seele gemäß ihrer Tugend. Man soll also sein Talent frei ausbilden können und sich so jene Fertigkeiten aneignen, die zu Zufriedenheit und Erfüllung führen.

Wie stellt man ein Talent fest?

Aristoteles bleibt hier einem aus seiner Zeit verständlichen ästhetischen Urteil verhaftet, wenn er sagt: "Denn wenn jemand blindlings Farben aufträgt, und seien sie noch so schön, dann vermag es nicht ebenso zu gefallen, wie wenn er eine klare Umrisszeichnung herstellt." (Poetik).

Wer gibt die haltbaren Parameter an, wie ein Talent als solches erkannt werden kann? Brauchen wir dazu einen allgemein gültigen Bildungskanon und Leistungsparameter für das "Rating"? Zählen nur jene Ergebnisse, die diesen Vorgaben entsprechen, oder ist es nicht gerade, um die aristotelische Unterscheidung noch einmal aufzunehmen, die spannende Sphäre zwischen dynamis und enérgeia, die in ihrer Prozessualität ein Ausdruck der genuin menschlichen Freiheit ist. Wenn wir den Fokus darauf richten, dann bleibt das Ergebnis hinter dem Ereignis zurück. Darf das im Wirtschaftsleben überhaupt sein oder ist das nur in der Kunst möglich? Wenn wir Innovation und Kreativität als Schlüsselqualifikationen im Wirtschaftsleben priorisieren möchten und diese Talente fördern wollen, dann werden wir um eine Blickverschiebung, weg vom quantifizierbaren Ergebnis hin zum offenen Prozess inklusive der damit verbundenen Risiken nicht herum kommen.

Es ist der Mensch in seiner Ganzheit, auf den es ankommt, indem wir ihn nicht auf die, für das Unternehmen vordergründig utilisierbaren und damit wertvollen Faktoren reduzieren, sondern wir ihn als zu Würdigenden annehmen. Im Übrigen lernen wir am meisten aus unseren Fehlern und somit sollten die Talentierten diese auch machen dürfen. Fortsetzung zum Talentemanagement folgt. (Leo Hemetsberger, derStandard.at, 18.3.2013)