Olivier Gourmet als getriebener französischer Verkehrsminister im Politthriller "Der Aufsteiger".

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Filmregisseur und Autor Pierre Schoeller. 

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Isabella Reicher sprach mit ihm über sein hochspannendes Politdrama.

Wien - Bertrand Saint-Jean ist Verkehrsminister in Frankreich. Er ist im politischen Geschäft ein Aufsteiger, ein Mann der Tat, dem diese Eigenschaft in Krisensituationen zum Vorteil gereicht. Unter anderem dann, wenn er mitten in der Nacht an eine entfernte Unfallstelle eilen muss, um dort Verantwortlichkeit zu performen. Der belgische Schauspieler Olivier Gourmet verkörpert ihn als einen Getriebenen, energetisch und unerschrocken, aber auch nicht unbegrenzt belastbar. In seinem zweiten Kinofilm L'Exercice de l'état verknüpft Autor und Regisseur Pierre Schoeller Saint-Jeans Schicksal mit den Geschäften einer zeitgenössischen Mediendemokratie.

STANDARD: Sie haben erwähnt, dass das Politiker-milieu Sie schon lange beschäftigt - was hat Sie im Hinblick auf einen Film daran interessiert?

Schoeller: Ich wollte etwas filmen, das ein Stück weit unfassbar bleibt. Und das wiederum liegt in der Natur der Macht - nicht greifbar zu sein. Ich wollte der Bestie in die Augen sehen. Das war eine echte Herausforderung. Es sollte ja ein realistischer, ernster Film werden, der sich aber auch einen freien, menschlichen Blick erlaubt. Und ich wollte das Kino mit der Gegenwart konfrontieren, mit dem, was in einer westlichen Demokratie vor sich geht.

STANDARD: Im US-Kino gibt es anders als in Europa eine lange Tradition, das Politmilieu, seine Repräsentanten zum Sujet zu machen. Haben Sie sich damit beschäftigt?

Schoeller: Die Amerikaner filmen meistens Fakten, Ereignisse. Mich interessiert der Action-Aspekt, Dynamik und Spannung. Ich habe mir etwa Alan J. Pakulas Die Unbestechlichen von 1976 angesehen. Ein anderer Film, der mir wichtig war, ist Der Kaiman von Nanni Moretti - ein sehr intelligenter Film über eine politische Figur.

STANDARD: Ist es im europäischen Autorenkino nicht eher verpönt, Politik mit Action zu verknüpfen?

Schoeller: Das ist mir egal. Die TV-Serie West Wing hat ja gut gezeigt, wie man Stunden um Stunden politischer Vorgänge erzählen kann.

STANDARD: Können Sie etwas zum Schnitt sagen, der ja nicht dem klassischen Actionkino entspricht?

Schoeller: Na ja - es sieht nicht aus wie bei den Bourne-Filmen, die ich sehr mag. Man soll schon verstehen, worum es geht. Man befindet sich schließlich in einem spezifischen Milieu. Vieles vollzieht sich hier in Gesprächen, Telefonaten. Andererseits ist der Film von einem Gefühl der Panik geprägt, von Angst, Stress und der Euphorie von Stress.

STANDARD: Vor "Versailles", Ihrem Kinodebüt, waren Sie lange Drehbuchautor. Worin liegt der größte Unterschied, wenn Sie ein Buch an einen anderen Regisseur abgeben?

Schoeller: Man schreibt dann eben für jemanden anderen, meine eigenen Filme haben damit wenig zu tun. Aber ich habe 2005 zusammen mit Jean-Pierre Limosin das Buch für eine Fernsehproduktion geschrieben, und die Hauptfigur war ein Affe, ein Bonobo-Weibchen. Das hat mir gezeigt, dass man in puncto Empathie und Psychologie sehr weit gehen kann. Alle waren sehr berührt von diesem Affen, weil wir ihn als einzigartig behandelt haben. Und dasselbe gilt auch für den Minister - er ist ein einzigartiges menschliches Wesen.

STANDARD: Ein Mensch, der aufs Klo geht, kotzt, blutet, Sex hat ...

Schoeller: Genau - Schweiß, Blut, Tränen, Kotze, Sperma, alles da.

STANDARD: Die Politik ist ein sehr physisches Metier, sagen Sie. Haben Sie Bewegungsmodi und Verhaltensweisen von Politikern in der Vorbereitung studiert?

Schoeller: Ich sammle Fotos. Da sind mir bestimmte Dinge aufgefallen - etwa dass Politiker nie als Einzelne unterwegs sind: Da sind die Leibwächter, die Pressesprecher usw. Erich Salomon, ein deutsch-jüdischer Fotograf aus den 1930er-Jahren, hat mich besonders inspiriert. Er war der Erste, der Staatsmänner gecovert hat.

STANDARD: Können Sie für Nichtfranzosen erklären, was es mit der Rede von André Malraux auf sich hat, die im Film vorkommt?

Schoeller: Die Rede ist sehr wichtig im politischen Leben Frankreichs. Es ist jener Moment, als die Asche von Jean Moulin, einer bedeutenden Figur der Résistance, ins Panthéon in Paris, die Ruhestätte großer Männer, überstellt wird. Und Malraux hält seine Rede, während ein Gewitter niedergeht. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat das 1964 mitgeschnitten. Es handelt sich auch weniger um eine politische Rede als um ein Stück Kulturgeschichte. Malraux trägt den Text vor wie ein großer Schauspieler. Für den Film wollte ich einen historischen Faden spannen. Die Politiker in Frankreich sind mit der Geschichte sehr vertraut. Man zitiert sie, spielt auf sie an.

STANDARD: Das Volk ist in Ihrem Film eher indirekt, vor allem über Medien präsent, aber einmal wird wörtlich auf die "grande colère", die große Wut, Bezug genommen.

Schoeller: Der Film ist gezeichnet davon, wie ich Frankreich im Jahr 2010/2011 wahrgenommen habe. Das Volk, also wir, sind ja eigentlich der Sinn der Politik. Der Zustand des Landes - dem sollte ihr Hauptinteresse gelten. Aber in Frankreich herrscht eine gewaltige Ungleichheit: Nichtverteilung des Reichtums, stagnierende Löhne, Armut, gravierende Probleme im Bildungssystem, in der Krankenversorgung und so weiter - das erzeugt eine große Wut. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 2./3.2.2013)