Max Ernsts "Wein, Weib, Greis und Blume" von 1923/24 aus dem Moma, New York. 

Foto: VBK, Wien 2012

Wien - Nicht die vernünftigsten Männer hätten in den vergangenen zwanzig Jahren Weltgeschichte geschrieben, sondern die Wahnsinnigen, urteilt Max Ernst im amerikanischen Exil. "Wenn die Malerei ein Spiegel der Zeit ist, muss sie wahnsinnig sein." Und tatsächlich sind die Bildwelten des Surrealististen Max Ernst (1891-1976), dem die Albertina nun seine erste Retrospektive in Österreich widmet, ein absurdes, von Wahnvorstellungen und halluzinatorischer Brutalität durchzogenes Universum: trügerische Paradiese, in denen albtraumhafte Monster in üppigem Grün lauern.

Ernsts unbändige Fantasie erinnert unweigerlich an die dämonischen Visionen von Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel d. Ä. - etwa Die Versuchung des heiligen Antonius, die er mit Kriegsende fertigstellte und in der es vor bissigen Fabelwesen mit mörderischen Krallen, reißenden Zähnen und todbringenden Schlünden nur so wimmelt. Was diese Maler über mehr als vier Jahrhunderte hinweg eint, ist ihr Weltbild, das den Glauben an ein humanes Diesseits - oder gar die Ratio überhaupt - verloren hat.

Denn bereits nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich der künstlerische Autodidakt Ernst, der sich die malerischen Techniken vom sonntagsmalenden Vater abgeschaut hatte, vom Konventionellen der Kunst abgewandt. Er sei bereits mit einem starken Bedürfnis nach Freiheit und Revolte geboren, sagt Ernst später, auf diese Zeit zurückblickend, in der "so viele Ereignisse zur Revolte herausfordern". Wenn man dann "die Welt anschaut, und mit ihr unzufrieden ist, muss man ein revolutionäres Werk schaffen".

Und das war zuallererst Dada. 1919 gründete Ernst, der "minimax dadamax" , angeekelt von der "Absurdität" und "der großen Schweinerei des Krieges" gemeinsam mit Johannes Baargeld die Kölner Dadagruppe. Ihre Empörung entlud sich in Angriffen gegenüber dem Bürgerlichen und den Grundlagen der Zivilisation, die diesen Krieg angezettelt hatten: Sprache, Syntax, Logik und etablierte Künste.

Zwischen Imagination, Anarchie und persönlichem Erleben entsteht ein für den Einzelnen schwer zugänglicher Kosmos, der in Wien, dem Geburtsort der Psychoanalyse, noch am ehesten verständlich sei, so Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder. Das OEuvre veränderte sich ständig; erweiterte sich um Techniken und Inhalte. "Den flüchtigen Beobachter verunsichert das", sagte Ernst-Auskenner Werner Spies 2005 im Zuge der von ihm kuratierten Retrospektive im New Yorker Metropolitan Museum. Daher hätten es nicht zuletzt die Amerikaner, die konstante Markenartikel wie Coca-Cola gewohnt seien, besonders schwer, erklärte ebenjener Experte, der - wie sich 2010 herausstellte - in mindestens sieben Fällen Fälschungen für echte Ernst-Gemälde gehalten hatte (DER STANDARD berichtete am 12./13.1.2013). Nun ist Spies, in der Albertina als Kunsthistoriker der Superlative gelobt, an der Zusammenstellung der Wiener Schau federführend beteiligt.

Die Bilder von Max Ernst würden uns die existenziellen Fragen stellen, dazu auffordern, sich selbst infrage zu stellen, erklärte Spies bei der Pressekonferenz. Fragen zur Fälschungsaffäre beantwortete er jedoch nicht. Das zeugt von mangelnder Souveränität - von Spies und der Albertina. Man würde nicht eindeutige Zuschreibungen ausklammern, zieht sich das Museum aus der Affäre.

Davon einmal abgesehen, ist dem Haus mit 180 Gemälden tatsächlich ein bewältigbarer Überblick gelungen. Er reicht von Max Ernsts dadaistischen Anfängen bis zu den großen surrealistischen Ölgemälden. Angesetzt wird bereits in einer Experimentierphase 1913, in der in kleinen Formaten Vorbilder wie Chagall oder Franz Marc hervorstechen. Gefangennehmen späte wie frühe Collagen, die auch die französischen Surrealisten so faszinierten. Nach 1945 verlieren Werk und Ausstellung an Überzeugungskraft.

Fazit: Überblick mit Potenzial zum Ausdünnen und moralischen Makeln. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 23.1.2013)