Bild nicht mehr verfügbar.

Die Zahl der Masernfälle ist von 2010 bis 2011 EU-weit um den Faktor vier gestiegen.

Foto: APA/Matthias Rietschel

Bad Hofgastein - Europäische Impfprogramme zählen zu den Erfolgsgeschichten der Medizin. Doch beim Impfen sind die Europäer zunehmend zurückhaltend - mit der Folge, dass besiegt geglaubte Infektionskrankheiten, wie Masern, in Europa wieder vermehrt auftreten. Europa-Parlamentarierin Karin Kadenbach forderte beim European Health Forum Gastein gemeinsame europäische Anstrengungen, um Impfungen wieder „in die Köpfe der Menschen zu bringen". Weltbank-Experte Armin Fidler unterstrich den hohen Kosten-Nutzen-Faktor von öffentlichen Impfprogrammen.

Bei Kinderlähmung oder Pocken war Europa mit flächendeckenden Impfprogrammen erfolgreich. Die Pocken gelten inzwischen als ausgerottet und 2012 wurde die WHO Region Europa zum zehnten Mal in Folge als poliofrei zertifiziert. An anderen schweren Infektionskrankheiten laboriert Europa allerdings noch: "Derzeit flammen beispielsweise Masern und Röteln in Europa wieder auf. Die Weltgesundheitsorganisation WHO musste daher das Ziel, diese Krankheiten endgültig zu besiegen, von 2010 auf 2015 verschieben. Grund dafür ist eine fallenden Impfquote, was zu einem Anstieg der Infektionen geführt hat", bedauerte die Karin Kadenbach. Nur wenn 95 Prozent der Population gegen Masern geschützt sind, können Viren nicht mehr zirkulieren.

In den 53 Ländern der WHO-Europaregion ist die Impfrate jedoch nicht annähernd hoch genug, um die extrem ansteckende Krankheit zu eliminieren. Mit gefährlichen Folgen, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt: Die Zahl der Masernfälle ist von 2010 bis 2011 in der EU um den Faktor 4 angestiegen. 

Hemmschuhe für Immunisierungen

"Europäische Impfprogramme geraten als Erfolgsstory der Gesundheitsversorgung leider in Vergessenheit, paradoxerweise gerade deshalb, weil sie so erfolgreich sind", so Kadenbach. Der Stellenwert von Impfungen werde verkannt, weil bestimmte Krankheiten kaum mehr ein Thema sind. Das verleite viele zur Einschätzung, dass die Impfungen nicht mehr nötig sind. Aufgrund von kontroversen Diskussionen, insbesondere im Internet, leiden Impfungen zudem an Imageproblemen. Viele Eltern sind verunsichert und lassen ihre Kinder nicht mehr gegen Masern, Röteln und Co. impfen.

"Fast 650.000 Kinder in der Europäischen WHO-Region erhalten zum Beispiel nicht die erste Dosis des Masernimpfstoffes, um die Bedingungen für den grundlegenden Impfschutz zu erfüllen", berichtete Kadenbach. Eine sehr bedauerliche Bilanz, zumal Masernerkrankungen keine Bagatelle sind, sondern zu schweren Schädigungen neurologischer Natur oder an den Organen führen können oder im schlimmsten Fall tödlich ausgehen. 

Die mit Impfungen verbundenen Kosten halten viele von Immunisierungen ab, wie sich am Beispiel der Grippe-Impfungen zeigt. Länder, die die saisonale Influenza-Impfung am wenigsten finanziell stützen, weisen auch die niedrigsten Durchimpfungsraten auf. Im Europavergleich ist Österreich gemeinsam mit Tschechien und Polen auf den hinteren Plätzen zu finden. Oft wird auch verabsäumt, besonders gefährdeten Personengruppen Immunisierungen nahezubringen. "Nur 37 Prozent der über 65-Jährigen sind in Österreich gegen Influenza geimpft, empfohlenes Ziel ist eine Rate von 75 Prozent. Im Vergleich dazu sind es in Spanien 71 Prozent, in Großbritannien 70 Prozent, in Frankreich 68 Prozent, also fast doppelt so viele", so Kadenbach. 

Neben ökomischen Barrieren können auch physische Barrieren daran schuld sein, dass sich zu wenige Menschen impfen lassen. Niederschwellige Ansätze wie Grippeimpfungen im Betrieb oder in einer Impfinsel in Einkaufszentren erweisen sich bereits in vielen Ländern als erfolgreich. 

Kosten-Nutzen-Faktor erwiesen

Für Armin Fidler, führender Berater der Weltbank in Fragen der Gesundheitspolitik, ist es auch ökonomisch sinnvoll, dass bestimmte Impfungen von der öffentlichen Hand finanziell stark gestützt und möglichst kostenlos angeboten werden: "Es ist klar erwiesen, dass Immunisierungen zu den kosteneffizientesten Interventionen im Bereich Public Health zählen." Dies auch dann, wenn die Impfstoffe kostspielig sind, wie der "State of the world's vaccines and immunization report" der WHO unterstreicht.

Das positive Kosten-Nutzen-Verhältnis zeigt sich deutlich am Beispiel von Pneumokokken-Impfungen. "Aus einer 2011 erschienen US-Studie geht hervor, dass bei ausreichender Durchimpfung in jenen Entwicklungsländern, die Unterstützung durch die Entwicklungshilfe-Organisation GAVI Alliance (Global Alliance for Vaccines and Immunisation) erhalten, im Zeitraum zwischen 2010 und 2019 zwischen 986 Millionen und 1,2 Milliarden US-Dollar an Kosten vermieden werden können, also rund 85 Prozent der Ausgaben, die durch Lungenentzündung entstehen würden - einer Krankheit, an der übrigens allein 2008 über 1,5 Millionen Kinder in Entwicklungsländern gestorben sind", berichtete Fidler. Noch nicht in dieser Berechnung enthalten sind die weiteren Krankheiten, die man Kindern und Gesundheitsbudgets durch eine Pneumokokken-Impfung ersparen könnte. So sind Pneumokokken bei Kindern unter fünf Jahren die zweithäufigste Ursache für akute bakterielle Gehirnhautentzündungen, die oft letal oder mit schweren Behinderungen enden.

Impfungen an Sozialleistungen knüpfen 

Nicht nur bezogen auf Entwicklungsländer stelle sich daher die Frage, so der Weltbank-Experte, warum man Menschen für eine medizinische Intervention zahlen lassen soll und dadurch vielleicht von einer Impfung fernhält, die nicht nur schwere Krankheit, Invalidität und Tod verhindern kann, sondern auch ökonomisch Sinn macht. "Selbst in vielen Ländern mit geringen oder mittleren Einkommen sind die öffentlichen Haushalte nicht nur bereit, auf Kostenbeteiligungen an den Immunisierungen zu verzichten - sie bezahlen die Menschen sogar buchstäblich dafür, um so die Durchimpfungsrate zu steigern. So sind in Staaten wie Brasilien, Mexiko oder der Türkei manche sozialen Leistungen wie etwa Schulgeld an Impfungen geknüpft. Diese 'conditional cash transfers' machen sich angesichts der hohen Kosten-Nutzen-Rechnung von Impfungen bezahlt", so Fidler.

Gemeinsame europäische Initiative erforderlich

"Die Bedeutung von Impfungen muss wieder in die Köpfe der Menschen zurückgebracht werden", forderte beim EHFG die Europa-Abgeordnete Kadenbach. "Dazu braucht es eine gemeinsame europäische Initiative, bei der Gesundheitsexperten und Entscheidungsträger eingebunden sind. Impfungen müssen weiterhin unvermindert politisch unterstützt werden. Andernfalls riskiert die WHO-Region, dass hochansteckende Krankheiten wieder auftreten, die Leiden, Behinderungen sowie Todesfälle verursachen und Gesundheitssysteme wie Eltern großen Belastungen aussetzen." Um die Impfbeteiligung zu erhöhen, brauche es Ärzte, die eine Impfempfehlung abgeben, vermehrte Information über Infektionskrankheiten und Schutzmaßnahmen dagegen und nicht zuletzt eine adäquate Finanzierung und Impfadministration. (red, derStandard.at, 4.10.2012)