Claude Bosi, Mauro Colagreco und andere werden beim Pelmeni-Schmaus von einem Schauer überrascht.

Foto: Anton Sucksdorff / sucksdorff.com

René Redzepi (mit Bart) und die anderen Raw-Stars vor dem glühenden Frischlings-Grab von Ben Shewry.

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René Redzepi ließ eine Suppe aus fermentierten Pilzen mit allerhand wilden Beeren, gegrillter Gurke samt Blüten und Sonnenblumenkernen servieren.

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Von lokalen Jägern erlegte, von Iñaki Aizpitarte gefüllte Wildenten wurden über offener Flamme gegrillt.

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Jeder Handgriff von den Küchenstars persönlich: Magnus Nilsson (Fäviken) hilft beim Anrichten von René Redzepis Suppe.

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Das heißt dann "Cook it Raw", gilt als exklusivster Koch-Event der Welt und fand diesmal in den tiefen Wäldern Nordostpolens statt.

Suwalszczyna, irgendwo im Nordosten Polens, hart an der Grenze zu Litauen, Russland und Weißrussland: Der Bus rumpelt über Waldwege, immer wieder sackt er in eine Pfütze, hoch spritzt das Wasser auf. Dann geht es einen Steilhang hinab, die Zweige der Birken streifen an der Karosserie. Plötzlich ist Sense. Chauffeur Pawel hat es satt: "Mein Bus ist für Straßen gebaut, nicht für diesen Sumpf. Ich fahre keinen Meter mehr!"

Dass seine Passagiere nach stundenlanger Fahrt von Warschau in dieses abgelegene Eck Europas erschöpft sind, dass der eine oder andere die retroaktiven Kräfte der Kurven auf sein Frühstück verspürt und auch sonst alle nur noch ankommen wollen, ist Pawel egal. "Es ist kaum mehr als ein Kilometer bis zu eurer Unterkunft, immer geradeaus", gibt er den Passagieren mit auf den Weg, bevor er die Türe zuknallt. Willkommen in Polen.

Dreizehn Köche der absoluten Weltspitze

Die derart ihres Transportmittels verlustig gegangenen Passagiere, das sind zwei Handvoll Journalisten von durchaus überregionalen Zeitungen wie dem Wall Street Journal, Time Magazine, Libération oder dem britischen Observer samt dem Pressesprecher des polnischen Landwirtschaftsministers - vor allem aber dreizehn Köche der absoluten Weltspitze. Zwar sind sie aus allen Ecken der Welt angereist, um sich für mehrere Tage in die spezifische Qualität des ostpolnischen Terroirs einzufühlen, aber dass dies so abrupt geschehen würde, wirkt doch ernüchternd.

René Redzepi, Oberkoch im Noma, dem angeblich besten Restaurant der Welt, erfängt sich als Erster: "Keine schlechte Gelegenheit, einmal nach den Schwammerln zu sehen!" Davon gibt der polnische Spätsommer tatsächlich beachtlich viel her. Als Redzepi und der Rest des illustren Pulks eine halbe Stunde später im Quartier einlangen, hat der wohl berühmteste aller Wildpflanzenköche einen Sack Reizker beisammen.

"Cook it Raw" nennt sich die Veranstaltung, für die sich eine Freundestruppe von Avantgardeköchen aus aller Welt einmal im Jahr trifft, um sich von den Traditionen, Produkten und Kochtechniken stets eher exotischer Weltgegenden überraschen und inspirieren zu lassen. Diesmal ist, auf Initiative des Warschauer Experimentalkochs Wojciech Modest Amaro (Atelier Amaro) und dank der Unterstützung des polnischen Landwirtschaftsministeriums, die Region Suwalki mit ihrer sanft geschwungenen Landschaft Ziel der Exkursion. In der Gosciniec Jaczno, einer prächtigen, ganz aus Holz und Natursteinen errichteten Datscha auf einer Halbinsel im Jaczno-See hausen Köche wie Journalisten in Viererzimmern, was etwa Bruce Palling, dem Gastroschreiber des Wall Street Journal, seit seiner Zeit "als Kriegsberichterstatter in Vietnam" nicht mehr passiert sei. Nur so viel: Nach einer erwachsenen Dosis Blaufränkisch "Carnuntum" des Weinguts Muhr / van der Niepoort (das der Veranstaltung gemeinsam mit Fred Loimer die flüssige Versorgung sicherte) schnarcht der gebürtige Australier ganz zivil in Zimmerlautstärke.

Eingeschworene Bruderschaft

Gegründet wurde Cook it Raw von den Italienern Alessandro Porcelli und Andrea Petrini gemeinsam mit René Redzepi vom Noma. Zuvor waren schon Dänemark, Friaul, Lappland und die japanische Präfektur Ishikawa Ziel der Ausfahrten.

Petrini, der Kreativdirektor der Unternehmung, beschreibt die Truppe als "eingeschworene Bruderschaft" von Spitzenköchen, die der Wille zur Innovation der Hochküche antreibt - von verschiedenen Standpunkten aus, aber durchwegs von der Überzeugung getragen, dass die herkömmliche Idee von Luxus antiquiert und das kulinarisch Interessante in scheinbar bescheidenen Ingredienzien zu finden ist: "Das sind Köche, die den Mut haben, sich auf unsicheres Terrain zu begeben und ihre Arbeit ganz grundsätzlich infrage zu stellen. Sie setzen sich einem unbekannten Terroir aus und erforschen es mit ihrem Repertoire."

So weit die Theorie. In der Praxis geht es den Köchen aber sehr wohl auch darum, ein paar entspannte Tage unter Gleichgesinnten zu verbringen und an Strategien zu feilen, wie sich ihre naturnahe Idee vom guten Essen möglichst global als das ganz große nächste Ding positionieren lässt.

Dass sich die Elite des guten Kochens ausgerechnet Polen und ausgerechnet diese doch etwas verloren wirkende Region als Destination ausgesucht hat, ist kein Zufall: Hier werden die Widersprüche offenbar, um die sich eine Reflexion über gutes Essen im 21. Jahrhundert wohl drehen muss: einerseits eine weitgehend unberührte Natur, in der Jagen und Sammeln noch einen wesentlichen Teil der Versorgung ausmachen. Andererseits die Bedrohung durch die industrialisierte Landwirtschaft, deren Segnungen auch in diesem letzten Winkel der EU bereits fühlbar werden: endlos scheinende Felder mit Mais-Monokultur etwa, die sich wie schwarze Löcher in den fein gewebten Teppich kleinbäuerlicher Intensiv-Landwirtschaft fressen. Sie scheinen das Credo des polnischen Landwirtschaftsministers Lügen zu strafen, wonach Polen "im Durchschnitt nur halb so viel Pestizide je Quadratkilometer" ausbringe wie der Rest der EU.

Die erste Station: Nowogród

Die erste Station der Köche ist die Ortschaft Nowogród, wo sich seit dem 13. Jahrhundert muslimische Tataren inmitten einer radikal katholischen Umgebung halten konnten. Dzenneta Bogdanowicz ist das Sprachrohr dieser kaum 5000 Seelen fassenden Gemeinde und zeigt den Mannen der internationalen Kochelite ganz unerschrocken vor, wie sie den papierdünnen Teig für den typischen Fleischkuchen Bäles auszuziehen haben. Einer nach dem anderen scheitert, die Tataren lachen. Einzig Ana Ros, der Shootingstar aus dem slowenischen Kobarid, zieht kein einziges Loch in ihren Teig: "Wie man Strudel zieht, das kenne ich von der Großmama", lacht sie.

Die stolze Tatarin legt unterdessen dar, wie die polnische Nationalspeisen, Pelmeni und Pierogi, auf die ostasiatische Tradition der gedämpften oder frittierten Jiaozi-Nudeln zurückgehen, die die Tataren mitbrachten, als sie im 13. Jahrhundert zu Hilfe gerufen wurden, um das damals noch animistische Ostpolen gegen die Horden des Deutschen Ordens zu verteidigen. Die hauchfeinen Teigtaschen werden Claude Bosi zu seinem Gericht inspirieren, für das er Nockerln aus zwei kapitalen Hechten aus dem See mit Flusskrebstaschen und einer Sauce aus geräucherten Äpfeln kombinieren wird.

Tags darauf teilt sich die Truppe in eine sammelnde, die unter der Führung einer Kräuterexpertin wilde Beeren, Gräser und Pilze suchen geht, sowie eine jagende, die mit lokalen Jägern jene Enten vom Himmel holen soll, die Iñaki Aizpitarte vom Pariser "Chateaubriand" für sein Gericht füllen und nach altfranzösischer Manier auf offener Flamme "à la ficelle"grillen wird.

Statt Konkurrenz ist es Freude

Das Mittagessen findet auf der Datscha statt, es gibt frisch geräucherte Zwergmaränen aus dem See, Karpfen mit Steinpilzen und Schleie mit Wurzelgemüse sowie eine Suppe, deren Basis aus doppelt fermentiertem Sauerteig besteht - und Redzepi dazu inspiriert, seine tags zuvor gesammelten Reizker ebenfalls einer Fermentation zuzuführen. Während Aizpitarte mühsam seine Enten rupft, treffen Bauern und Lebensmittelhandwerker aus der Umgebung ein, um ihre Produkte zu präsentieren: auf offenem Feuer gedrehten Baumkuchen, frische Gurkerln, rote Rüben und Äpfel, grandiose Kartoffeln aus der fetten Erde und eine Fülle wild gesammelter Beeren, von intensiv sauerfruchtigem Sanddorn über Eberesche und Himbeere bis zu schwarzdunklen Brombeeren. Aber auch ein ganzes Schaf, das sich alsbald am Spieß dreht, frisches Wildbret, eine museumsreife Gulaschkanone mit Krautgulasch der epochalen Art.

Schön langsam ist das schwirrende Kreisen der Gedanken zu spüren, die sich die Chefs um das tags darauf bevorstehende Dinner machen. In einer speziell für das Ereignis in einen Lagerraum gestemmten High-Tech-Küche werden diese Götter in Weiß für eine Runde von 50 Gästen - neben den Journalisten und dem Staatssekretär eine Reihe lokaler Würdenträger - zeigen, wie sie, jeder für sich und doch alle gemeinsam, ihre Inspiration der polnischen Erde auf die Teller bringen. Für einen Abend werden sie sich gegenseitig die Brigade sein. Jede Knolle, jeder Apfel wird eigenhändig geschält, Souschefs und andere Helfer sind daheim geblieben. Man hilft sich gegenseitig, statt Konkurrenz ist es Freude, die aus gegenseitigem Austausch wächst.

Kobe Desramaults lässt Rohmilch stocken, die er mit glacierten Petersilrüben und Wildkräutern servieren wird. Ana Ros, die ihr Gericht "Eiserner Vorhang" nennt, wird gegrillte Gurken, Rote-Rüben-Saft und Apfelkerne mit einer federleichten Mousse aus geräucherten Zwergmaränen und einer einzelnen Himbeere kombinieren - eine Reverenz an die gemeinsamen Jahre der Entbehrung von Polen und Slowenen unter dem Kommunismus, als es oft nur das gab, was man sich an bescheidener Ernte aus dem Kleingarten zog. Am Abend wird dieses Gericht einer der frenetisch applaudierten Höhepunkte sein.

Das Recht zu scheitern

Der in Australien lebende Neuseeländer Ben Shewry hat sich derweil abseits der Kollegen darangemacht, eine Erdgrube auszuheben, ein feuchtes Grab, in dem er zwei Frischlinge und allerhand Gemüse versenken wird, um sie mit Steinen zu bedecken, auf denen ein mächtiger Holzstoß entzündet wird. Es ist eine Technik der Maori aus seiner Heimat, Hangi genannt, um Jagdbeute in einer Erdgrube zu garen. Am Nachmittag wird der Holzstoß angezündet. Um 19 Uhr, als die Gäste sich zum Dinner setzen, glosen die Scheiter noch. Es ist Mitternacht, bis die Gäste gebeten werden, sich nach einem emotionsgeladenen Essen zu erheben. Zum Soundtrack der Ramones - "I don't want to be buried in a pet cemetery" - geht es zum Feuergrab, "Cook it raw, das ist auch das Recht zu scheitern", sagt Shewry bang, während er beim Schein der Fackeln mit einer Schaufel Asche und Steine entfernt. Zu Tode gegart? Ausgetrocknet?

Die weißen Leintücher, in die das Essen gebettet wurde, kommen zum Vorschein. Shewry wirkt wie in Trance. Er hebt den ersten der Frischlinge auf ein Brett, reißt einen Brocken Fleisch aus der Lende, kostet. Langsam kehrt das Lächeln wieder in sein Gesicht. Alle werden eingeladen, sich zu bedienen. Man isst mit den Händen, tunkt das karamellisierte Fleisch, die weich geschmorten Gemüse in eine ätherische Sauce aus Milch und dem in Polen unvermeidlichen Räucherkäse. Lagerfeuerstimmung macht sich breit. Die lokalen Würdenträger können kaum fassen, was ihnen hier als feinste aller Küchen präsentiert wird: "Echtes Essen!", meint einer und wippt im Takt der Ramones. René Redzepi schnorrt sich noch eine Zigarette. Cook it raw hat in Polen Spuren hinterlassen. (Severin Corti, Rondo, DER STANDARD, 28.9.2012)