Schriftstellerin Rabinowich: "In der 'Erdfresserin' vereinen sich viele Geschichten, die ich als Dolmetscherin gehört habe."

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Standard: Frau Rabinowich, Sie kolumnieren unter dem Titel "Geschüttelt, nicht gerührt" seit geraumer Zeit im Standard-Album. Worin unterscheidet sich diese Art des Schreibens von Ihrer schriftstellerischen Arbeit?

Rabinowich: Ich habe dabei die wunderbare Möglichkeit, etwas von der schweren Ernsthaftigkeit des Romanschreibens herunterzusteigen, und es macht mir durchaus Spaß, mich ungestraft in kleinen Portionen zum Weltgeschehen zu äußern. Überdies ist es für eine Schriftstellerin auch eine gute Übung in Selbstdisziplin, wenn man durch die Vorgabe der kleinen Form gewissermaßen zu einem sehr effizienten Umgang mit Sprache gezwungen wird.

Standard: Kommen wir zur großen Form, dem Roman: Sie sind 2009 für Ihren Debütroman "Spaltkopf" mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet und in der Folge mit viel medialer Aufmerksamkeit bedacht worden. Wie wichtig war dieser Preis für Ihre Laufbahn?

Rabinowich: Sehr. Das war ein großer Glücksfall. Ich würde sagen, dass Preise dieser Kategorie eine ganz große Wirkung zeigen.

Standard: Eine Wirkung, die nicht selten von kurzer Dauer ist. Viele Trägerinnen und Träger von namhaften Literaturpreisen verschwinden wieder in der Versenkung.

Rabinowich: Natürlich ist es mit dem Erhalt eines solchen Preises nicht getan, aber es wird ein Opportunity-Fenster aufgemacht, eine Möglichkeitsform eröffnet, und wenn man Glück hat, kann man diese Möglichkeitsform zur Gegenwartsform umgestalten.

Standard: Eine solche Gegenwartsform liegt jetzt als neuer Roman vor, der jetzt erscheinen wird. Er heißt "Die Erdfresserin", und es wird darin die Geschichte von Diana erzählt, einer Frau aus der bitterarmen russischen Provinz, die sich in Österreich als Sexarbeiterin verdingt. Während im "Spaltkopf" autobiografische Bezüge schwer von der Hand zu weisen sind, wird in der "Erdfresserin" von einem Leben erzählt, das mit Ihrer Biografie wenig gemein hat. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Rabinowich: In der "Erdfresserin" vereinen sich viele Geschichten, die ich in meiner Zeit als Dolmetscherin gehört habe. So gesehen hat die Geschichte viel mit mir zu tun, auch wenn sie nicht von mir handelt. Der Roman ist auch meine Form der Verbeugung vor dieser Arbeit und vor den Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, machen durfte. Er ist nicht zuletzt meine Form der Reverenz an die, die unter widrigsten Umständen um ihr Überleben kämpfen und dabei versuchen, noch irgendwie in der Würde zu bleiben.

Standard: Also ist Schreiben auch ein Hinschauen, wo andere lieber wegschauen?

Rabinowich: Ja. Das Sichtbarmachen solcher Lebensrealitäten war und ist mir sehr wichtig. Da geht es ja nicht um etwas, das an den Haaren herbeigezogen ist, es geht um Menschen, die uns im Alltag umgeben, aber dieser Alltag verläuft unter unserer Wahrnehmung, und er ist erschreckend in seiner Einfachheit und Grausamkeit, auch in seiner Parallelität.

Standard: Meinen Sie damit, dass die Lebens(ver)läufe dieser Frauen ähnlich sind?

Rabinowich: Ja, sie sind sehr ähnlich, zumindest viele von ihnen.

Standard: Trotzdem ist Diana ja eine Kunstfigur ...

Rabinowich: Natürlich ist sie das, andernfalls wäre das ja uninteressant für mich als Schriftstellerin, aber sie ist nicht unrealistischer als andere, die ich kennenlernte.

Standard: Auch dann nicht, wenn sie bei der Razzia in einem einschlägigen Lokal Dostojewskis "Der Idiot" aus der Schublade zieht?

Rabinowich: Überhaupt nicht. Wir haben Klientinnen gehabt, die höchst belesen und gebildet waren, zum Teil auch tolle Jobs gehabt haben, bevor es mit Russland den Bach runtergegangen ist. Blöderweise können diese Frauen ihre Bildung nicht zu Brot machen, die andere Form der Arbeit, die sie machen, dagegen schon. Viele der Frauen trugen Dinge bei sich, die ihnen früher wichtig waren, einen Teil der alten Identität ausmachten: als Symbol, um dieses alte Selbst ja nicht zu vergessen. Das kann in Dianas Fall ein geliebtes Buch sein, das obendrein noch von einem "gefallenen, aber starken Mädchen" handelt. Andere machen das genaue Gegenteil - nichts soll mehr daran erinnern, wer sie gewesen sind.

Standard: Nun ist die Prostitution im Kontext der illegalen Immigration ja keineswegs ein Phänomen, das sich auf Österreich beschränkt. In welcher Weise wäre der Gesetzgeber hier gefordert?

Rabinowich: Es würde sich sehr viel ändern, wenn man den Begriff Wirtschaftsflüchtling etwas genauer definieren würde. Deshalb gibt es auch im Buch die Stelle, wo sie als "Wirtschaftsflüchtling" eingestuft und somit als nicht rettungswürdig abklassifiziert wird. Sie kommt de facto aus keinem Kriegsgebiet, ihr Krieg ist sozusagen ein höchst privater, was sie aber in meinen Augen nicht weniger rettungswürdig macht. Denn Menschen, die keinen Weg sehen, sich und ihre Kinder zu ernähren, als den, sich in widrigste und gefährlichste Umstände zu begeben, so zu behandeln, als handle es sich dabei um diejenigen, die es einfach "ein bisschen besser haben wollen als zuhause", ist ein Zynismus, der zum Himmel stinkt.

Standard: Dennoch handelt es sich bei der "Erdfresserin" nicht um eine Sozialreportage, sondern um einen Roman, und in einem solchen wird in aller Regel auch etwas versucht, das über die Alltagserfahrung hinausreicht, es geht zuweilen um Universelles, um allgemein Menschliches, das mit den Mitteln der Sprache verhandelt wird. Wie würden Sie diesen übergeordneten Rahmen im Fall der "Erdfresserin" benennen wollen?

Rabinowich: Als das menschliche, universelle Bedürfnis zu überleben. Das ist für mich sehr oft das Grundthema, welche Wege das Unbewusste einschlägt, um dieses auch in sehr überlebensfeindlichen Situationen aufrechtzuerhalten. Im Unbewussten - und das Unbewusste ist ein weites Land - gibt es oft andere Lösungen als jene, die uns mit dem Alltagsbewusstsein als logisch erscheinen.

Standard: Sie streuen Schnitzler ein - schon in Klagenfurt 2011, wo sie bereits einen Auszug aus der "Erdfresserin" vorgetragen haben, wurde Ihrem Text von Teilen der Jury eine gewisse Nähe zu Schnitzler attestiert. Gibt es da eine besondere Affinität?

Rabinowich: (lacht) Ja, ich liebe ihn! Er war ja auch ein großer Verehrer Freuds und wahrscheinlich einer der Schriftsteller, die am meisten von den psychoanalytischen Theorien inspiriert wurden.

Standard: Trifft denn das auf Sie auch zu?

Rabinowich: "Die Erdfresserin" war für mich ein Versuch, eine psychoanalytische Herangehensweise mit Malerei zu verknüpfen. Daraus sind Bilder entstanden, die man analytisch deuten kann. Ich komme ja ursprünglich von der Malerei.

Standard: Wenn man im Bilder-Bild bleibt, dann denkt man beim Lesen Ihres Romans sicher nicht an Malevich, eher schon an ein barockes Gemälde.

Rabinowich: Barock ist ein verfänglicher Begriff, er wird oft mit Kitsch verbunden, aber im Sinne von überbordend bin ich sicherlich eher ein barocker als ein minimalistischer Mensch, und das spiegelt sich bis zu einem gewissen Grad bestimmt auch in meinem Schreiben wider.

Standard: Was genau meinen Sie damit?

Rabinowich: Ich meine damit die unglaubliche Intensität und Dichte, die das Leben auszeichnet und die mich sehr fasziniert. Das Leben ist nun einmal sehr reichhaltig bis überfordernd und so, dass man es nicht einordnen kann; es ist dreckig und gleichzeitig schön, und es prägt sich in Rot und in Weiß und in Schwarz, es ist schwindelerregend und angsterregend und unheimlich bereichernd, und ich versuche diese Stimmung, die ich dem Leben gegenüber habe, auch in meinen Texten unterzubringen.

Standard: Sie betreiben dieses Unterfangen mit hohem Tempo und - von außen betrachtet - schwindelerregender Produktivität.

Rabinowich: (lacht) Man könnte es auch Manie nennen.

Standard: Und woraus speist sich diese Energie?

Rabinowich: Aus der Angst vor dem Tod natürlich, so wie das meistens der Fall ist.     (Josef Bichler, Album, DER STANDARD, 21./22.7.2012)