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Foto: Hersteller

Auch Zeit kann man in Falten legen. Der britische Designer Benjamin Hubert tut es jedenfalls. Wer diesen April an der Mailänder via Durini 23, im Flagshipstore des Labels Nava vorbeischaute, der konnte auch sehen, wie. Denn mit zweidimensionalen Zifferblättern hat es die dort präsentierte Armbanduhr "Plicate" nicht so. Hubert faltete den halben Tag - genauer: die Zwölf-Stunden-Zifferscheibe - lieber im Stile eines Papierfächers und setzte dasselbe Prinzip der räumlich aufgerauten Fläche gleich noch ein weiteres Mal ein: nämlich an der Unterseite des "Plicate"-Armbandes. Dort, wo Plastikbandträger nicht nur an der warmen via Durini schwitzen, sondern weltweit. Nun erlauben feine Fältchen an genau dieser "Problemzone" eine verbesserte Luftzirkulation.

Juliet sleeve

Doch der neue Jungstar des englischen Designs macht in diesem Design-Frühling noch viel mehr Wind. Der heurige Salone del Mobile war keine schlechte Zeit, um noch mehr Falten zu präsentieren. Da waren zunächst jene Puffärmelchen, die in Modekreisen unter dem Fachausdruck "Juliet sleeve" kursieren und die den Mailänder Salone-Flaneuren ungewöhnliche Seitenblicke erlaubten: Benjamin hatte das gebauschte Modedetail der italienischen Renaissance im Rahmen seines Club-Sessels "Juliet" in eine weiche Lederblüte verwandelt, deren Machart zugleich die handwerkliche Kompetenz des Auftraggebers Poltrona Frau effektvoll in Szene setzte. Und das war wichtig: Immerhin hatte das Traditionslabel zwölf der spannendsten Nachwuchsdesigner zu einem Wettbewerb eingeladen, die das 100-jährige Bestehen der Firma richtungsweisend illustrieren sollten. Benjamin Hubert setzte sich dabei gegen Design-Frischluft-Garanten wie Nendo, Stephen Burks oder Adram Goodrum durch.

Es gab noch mehr zu feiern. Dem bereits im Vorjahr vorgestelltem, umgehend mit Designauszeichnungen dekoriertem, und wunderbar proportioniertem Casamania-Schichtholzsessel "Maritime" hatte er eine neue, weiche Innenschale verpasst und überdies den ebenso schlank wie grafisch anmutenden Tisch "Pontoon" zur Seite gestellt. Und auch in der vorstädtischen Zona Tortona, wo Cappellini die neue Kollektion präsentierte, stand Benjamin Hubert an vorderster Salone-Reihe. Und gleich neben ihm: sein Lounge Chair "Garment", ein explizit nahtloses Möbel, dessen Entwurf ebenfalls eigenwillige Studien vorausgegangen waren. 

Möbel zum Anziehen

"Wie kann man ein Möbelstück anziehen, ohne sich an die konventionellen Regeln und Konstruktionen typischer Polstermöbel zu halten?", lautete die dazugehörige Kernfrage, aus der sich ein ebenso gut angezogener wie innovativer Sessel ergab. Hubert entwickelte ein, so noch nie gesehenes, Möbelkonzept: Ein einzelnes Stück Stoff wird zunächst lose um die klare geometrische Polyurethanform gelegt. Die Grundstruktur und der lockere Bezug sorgen dann für Falten, die dem Stuhl Charakter verleihen - und zugleich jene Freiheit, die man modischen Solisten gerne zubilligen mag. Denn indem der Stoff per Klettband befestigt wird, lässt sich die Optik von "Garment" ganz leicht verwandeln - nicht zuletzt in den aktuellen Modefarben der Saison.

Falten für Stunden und für Romantik-Sessel, plus mehr Modemut in Sachen Möbel-Garderobe - es sind keineswegs Eintagsfliegen, mit denen der Absolvent der mittelenglischen, auf halbem Weg zwischen Nottingham und Leicester gelegenen Loughborough-Universität auf sich aufmerksam macht. Die Zusammenarbeit mit Produzenten in halb Europa belegen dies. Ebenso wie eine wahre Flut an Auszeichnungen. Als geradezu multiple "Designer of the year"-Persönlichkeit taucht der 1984 Geborene, der vor fünf Jahren sein East-Londoner Design-Studio eröffnete, da auf. Und als Preisträger für zumindest ebenso viele "Products of the year" (u. a. im Rahmen der British Design Awards, von Messen wie 100% design, und Fachmagazinen wie Blueprint Magazine oder Elle Déco). In diesem Jahr ging der Lauf munter weiter: Je zwei Red Dot und IF Produkt Awards, unter anderem für den aus Filz gefertigten Akustik-Kokon des Sessels "Pod" (Hersteller: De Vorm). Den jüngsten Preis-Drüberstreuer bescherte dieser Tage das Magazin Architektur+Wohnen im Rahmen des Audi Mentorpreis 2012. Kurz: Der filigran wirkende Mann schaffte es im Eilzugstempo, zu den gefragtesten Entwerfern der Gegenwart zu zählen.

Hoffnungsvoller Scherbenhaufen

Dem war freilich nicht immer so. Da gab es etwa jene Schrecksekunde, die ihn am Anfang der Karriere überkam - um erst recht Kraft daraus zu beziehen. Als Hubert vor zwei Jahren als neuer Hoffnungsträger der Londoner Design-Szene und im Rahmen des Dezeen-Video-Blogs "Design Talents" vor sein Publikum trat, servierte er diesem zunächst mal Bilder eines einzigen Scherbenhaufens der Sorte "shit happens". Das leichte Zucken, das der dünnhäutige Mann dabei an den Tag legte, wirkte auch vier Jahre nach dem kleinen Drama noch äußerst authentisch. Zeigten Benjamin Huberts Doku-Fotos doch das ganze Schlamassel, das sich nach dem Öffnen jenes Transportkartons präsentierte, in dem seine Diplomarbeit an die Adresse einer interessierten Galerie geschickt worden war - oder sagen wir lieber: gekickt.

"It was my baby", sagt Hubert lächelnd dazu. Ein Jahr ging er mit dem Projekt schwanger. Und anschließend mit einer wesentlichen Erkenntnis. Sie lautete: "So what?! Es ist bloß ein Stück Design. Ich kann so viel davon machen, wie ich will."

Oliver Twist-Charme

Das beweisen nicht nur jene "Design by Benjamin Hubert"-Sichtungen, die sich in diesem Mailänder Frühling so auffällig häuften - sondern das belegt auch die Vielfalt eines, binnen weniger Jahre entstandenen, Produkt-Panoramas. Dass sich Benjamin Hubert dafür sogar an die Töpferscheibe setzt - etwa um so ein Gefühl für das Material Ton zu bekommen, aus dem seine "Chimney"-Leuchte (Hersteller: Viaduct) ihren Oliver Twist-Charme bezieht - überrascht da keineswegs. Oder zumindest nicht mehr, als andere Ideen das tun. Etwa wenn frei kombinierbare Silikonblättchen die Lampenschirme seiner "Roofer"-Leuchte (Hersteller: Fabbian) im Stile marokkanischer Dachdeckertradition bekleiden.

Sportiver rudert da die Stehleuchte "Paddle" daher - zugleich in jener Vielschichtigkeit, an der sich Benjamin Huberts Erfolg in Wahrheit festmachen lässt. Denn auch bei "Paddle" lässt sich der Brite keineswegs bloß von der Form des Studienobjekts inspirieren, sondern ahmt vielmehr die 360-Grad-Freiheit der typischen Paddelbewegung nach. So kommt man nicht nur im East-Londoner Design-Studio hinter der Camden Road weiter, sondern in Wohnzimmern in aller Welt. Wer je mit unbeweglicheren Stehleuchte-Teilen durch die Wohnung rudern musste, weiß wohl auch, warum. (Rondo, DER STANDARD, 08.06.2012)