Clemens Tissi und seine Objekte namens "Armhocker".

Foto: Hersteller

DER STANDARD: Vintage scheint die Welt zu regieren. In Wien wurde auch eine Ausstellung eröffnet, die sich Objekten aus den 1960er-Jahren widmet. Woher stammt der Begriff Vintage?

Clemens Tissi: Er kam eigentlich aus der Modewelt, wo er ältere Kollektionen bezeichnet. Auch alte Uhren oder Wein können Vintage sein. Dann hat er nach und nach auch die Welt des Alltags- und Möbeldesigns erobert. Vintage geht vom Objekt aus, Retro von der Sicht vom jetzigen Standort. Das steckt ja schon im Wort: rückwärts. Retro bezeichnet also einen Trend, Vintage das Objekt.

DER STANDARD: Was haben Sie für ein Problem mit dem Begriff Vintage?

Tissi: Wenn heute jemand einen Eames Lounge Chair sieht, dann zählt für ihn nur die Form und das Label "Vintage" - und in keiner Weise der Inhalt des Möbelstücks, das heißt: warum und wie das Stück entworfen wurde. Die Form ist nur noch dazu da, ein Gefühl zu evozieren. Es geht nicht um Inhalt, um Haltung. Das ist purer Kitsch. Auch eine Kuckucksuhr ist dazu da, durch ihre Form Gefühle hervorzurufen: Gemütlichkeit, Heimatverbundenheit und so weiter. Bei den Neuauflagen der Eames-Möbel von Vitra, die genau so unangenehm sind wie eine Kuckucksuhr aus Plastik, sollen Gefühle wie Coolness und Trendysein hervorgerufen werden. Das ist purer Retrokitsch.

DER STANDARD: Sie haben sehr lange an der Vintage-Welle partizipiert und auch davon profitiert. Als Galerist haben Sie diese Möbel verkauft.

Tissi: Ja, sehr gut sogar. Ich liebe die guten Objekte ja auch, dass Sie mich nicht falsch verstehen. Ein Eames Plastic Chair aus der ersten Auflage ist nach wie vor ein wunderbares Objekt. In den Händen eines Trendaffen aber wird er zur Waffe gegen den guten Geschmack.

DER STANDARD: Warum haben Sie die Arbeit als Galerist aufgegeben?

Tissi: Ich habe vor zwei Jahren eine Ausstellung mit namenlosem Design organisiert. Da habe ich bereits gemerkt, dass die Leute nicht an der Design-Geschichte eines Objektes interessiert sind, sondern an Namen und Marken, von denen sie auf irgendwelchen Dinnerpartys gehört habe. Und die sollen ihnen schlussendlich die Weihe geben, zu einem elitären Zirkel zu gehören. Das ist mir auf den Keks gegangen. Und zudem: Immer wenn man feststellt, dass Dinge, die früher von 1000 Leuten gemocht wurden, auf einmal von 10.000 Leuten gemocht werden, sollte man Fragen stellen.

DER STANDARD: Das heißt: Design sollte elitär sein?

Tissi: Nein Haltung. Haltung ist keiner Elite vorbehalten. Nur heute leider selten. Wir dürfen Seltenheit nicht mit Elite verwechseln, nur weil beides in einer kleinen Anzahl auftaucht.

DER STANDARD: An diesem Punkt haben Sie begonnen, Leuchten und Hocker zu entwerfen?

Tissi: Ich bin eigentlich Architekt, habe mit 20 mein erstes Haus gebaut, bin aber vor 20 Jahren sozusagen aus der Architektur emigriert. Entworfen habe ich immer schon und auch die ganze Zeit - Objekte für mich selbst. Als ich vor eineinhalb Jahren schließlich beschloss, die Galerie aufzugeben, hatte ich innerhalb von zehn Minuten die erste Leuchte entworfen. Das ging so schnell, weil ich keine Formenexperimente machte, sondern lediglich die adäquate Form zu einer Haltung skizzieren musste. Da gibt es keine hundert Möglichkeiten und Varianten.

DER STANDARD: Sie sagen: Vintage ist die Angst vor dem eigenen Geschmack.

Tissi: Ja, man nimmt sich mit einem Vintage-Stück einen mittlerweile gesellschaftlich abgesicherten Wert, um nicht ein eigenes Wertesystem, eben einen eigenen Geschmack, aufbauen zu müssen. Der eigene Geschmack birgt ja eventuell die Gefahr, gesellschaftlich nicht mithalten zu können. Den Leuten geht es um Außenwirkung.

DER STANDARD: Nicht jeder hat die Muße, sich mit einem eigenen Wertesystem in Designfragen zu beschäftigen. Aber ist nicht die Zukunftsangst oder Aversion gegenüber dem Fortschritt auch ein Punkt, der das Aufkommen von Vintage gefördert hat?

Tissi: Möglich, da haben Sie recht. Es gab immer wieder Zeiten vermehrter Zukunftsangst. In den 1960er- und 1970er-Jahren nicht; da entstanden dann auch viele der Objekte, auf die sich dieser Retrotrend von heute bezieht. Vintage also als Wunsch nach einer angstfreien Zeit in blindem Glauben an die Zukunft. Vintage als Regression. Daraus würde man auch schließen können: Vintage ist unkritisch unpolitisch.

DER STANDARD: Ihre Idee von Design scheint sehr idealistisch. Ist es aber nicht so, dass sich die Leute auch Ihre Haltung kaufen, wenn sie Ihre Stücke erwerben? Das widerspricht doch der Idee, dass man sich ein eigenes Wertesystem aufbauen müsse.

Tissi: Wie man Kindern etwas mitgeben kann, kann ich auch meinen Stücken etwas mitgeben. Aber wie meine Kunden dann die Objekte platzieren und benutzen, ist ihre Sache. Ja, ein Stück wird mit der Haltung des Autors aufgeladen. Aber es entlädt sich, sobald es der Kunde mit seiner Idee bepackt. Wenn natürlich jeder seine eigenen Objekte machen könnte, das wäre fantastisch.

DER STANDARD: Das heißt: Letzten Endes wollen Sie solche Ausstellungen, die sich Vintage widmen, zum Teufel schicken?

Tissi: Nein. Aber das furchtbar verspätete Aufspringen auf einen Modetrend ist unangenehm. So kommt man nicht weiter. Alles was auf ein bestimmtes Bedürfnis oder Gefühl hin produziert wird, ist einfach Mist. Das Retrozeugs wird darauf hin produziert, dass ein Bedürfnis nach diesem Zeugs bestehen möge. Das ist Mist. Und genau so ist es mit Museumsausstellungen. Wir haben 2012. Solche Ausstellungen hätte man vor 30 Jahren machen müssen - um den Leuten zu erklären, warum und wie sich diese Möbel entwickelt haben.

(Ingo Petz, Rondo, DER STANARD, 09.03.2012)