DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe Gerechtigkeit

Thomas Pogge: "Die Moral allein für sich genommen ist als Kraft zu schwach."

Foto: Hæge Håtveit

Standard: Nach neuen Schätzungen sind erstmals mehr als eine Milliarde Menschen von Hunger und Armut bedroht, während die Reichen der Welt immer noch reicher werden. Das Problem der Gerechtigkeit scheint dringlicher denn je.

Pogge: Das scheint nicht nur so, das ist so. Man braucht sich nur ansehen, wie sich der Anteil des ärmsten Viertels der Menschheit am globalen Haushaltseinkommen in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat: Der fiel von 1,16 Prozent 1988 auf 0,78 Prozent heute. Das ist ein Rückgang um ein Drittel. Das muss man sich einmal vergegenwärtigen: 25 Prozent der Menschen dieses Planeten verdienen gerade einmal ein Dreiviertel Prozent!

Standard: Wie kam es Ihrer Meinung nach dazu?

Pogge: Die Wurzel des Übels sind die Grundregeln unseres globalen Wirtschaftssystems, die in den vergangenen 20 bis 30 Jahren in internationalen Verhandlungen ausgeknobelt werden. Bei diesen Verhandlungen geben die wichtigen Regierungen den Ton an - und sind dabei von mächtigen Konzernen und Banken beeinflusst, die es sich leisten können, Lobbying zu betreiben.

Standard: Das klingt ein wenig nach Verschwörung. Lobbying gibt es doch überall.

Pogge: Aber auf nationaler Ebene gibt es wenigstens die Möglichkeit demokratischer Gegenmaßnahmen. Im Notfall mobilisiert die Zivilgesellschaft, geht auf die Straße und diskutiert schlechte Gesetze in Zeitungen. Aber auf internationaler Ebene findet das zumeist hinter verschlossenen Türen statt, und man weiß erst hinterher, was da eigentlich beschlossen wurde. Und völlig unklar ist, wie jene Wendungen in den Text reingekommen sind, die dann so viel Schaden anrichten. Keiner dieser Mächtigen hasst die Armen, aber das Ergebnis dieser Verhandlungen ist, dass immer weniger für sie übrig bleibt.

Standard: Die Kluft zwischen arm und reich geht aber nicht nur global, sondern auch innerhalb von Ländern wie den USA stark auf.

Pogge: Das ist richtig. Langfristig betrachtet erreichte die Ungleichheit in den USA einen ersten Höhepunkt 1928, dann sank sie bis 1978 ab. Und seither ist sie besonders stark angestiegen. Auch dazu gibt es harte Zahlen: So ist etwa der Einkommensanteil der ärmeren Hälfte der US-Amerikaner seit 1978 von 25 auf 12 Prozent gefallen, während die Gewinne bei den ganz Reichen nahezu exponentiell wuchsen. Das reichste 100stel Prozent hat seinen Einkommensanteil währenddessen versiebenfacht.

Standard: Wie kommt es, dass auch in den USA die Reichen immer reicher werden?

Pogge: Das liegt in erster Linie daran, dass die Reichen in den USA extrem niedrige Steuern zahlen. Das ist mittlerweile immerhin auch im Volksbewusstsein angekommen - nicht zuletzt auch durch Äußerungen von Superreichen wie Warren Buffett. Der schrieb, dass er 15 Prozent Steuern zahle, aber alle, die bei ihm in der Firma arbeiten, müssten prozentuell höhere Abgaben leisten. Lohn wird nämlich mit bis zu 35 Prozent besteuert, Kapitalerträge aber eben nur mit höchstens 15 Prozent. Damit sammelt sich das Geld am obersten Ende an.

Standard: Wird sich daran etwas ändern, wo doch die Leute dieser Ungerechtigkeit anscheinend bewusster sind?

Pogge: Da bin ich skeptisch. Das Problem ist die Finanzierung von Wahlkämpfen durch Private. Man kann im Prinzip einen Kandidaten mit unendlich viel Geld unterstützen, und wenn der dann gewinnt, dann hat man später natürlich entsprechend viel Einfluss. Das Problem ist, dass dieses Spendensystem vom obersten Gerichtshof abgesegnet und daher kaum wieder aufzuheben ist. Dazu vertreten die republikanischen Politiker die Sache der Wirtschaft, während ihre Wähler sich sagen: Die Regierung ist ohnehin korrupt, und je weniger Geld sie kriegt und umso weniger Steuern bezahlt werden, desto besser.

Standard: Sie sind in Ihren Konzepten globaler Gerechtigkeit sehr rigoros, was unsere Mitverantwortung angeht - viel strenger als die meisten Ihrer Kollegen. Wie begründen Sie diese ethischen Pflichten, die wir Ihrer Meinung nach haben?

Pogge: In drei Schritten - und zum Teil mit dem bereits Gesagten: Der erste Schritt ist, dass die globalen Handelsabkommen und andere internationale Verträge großen Einfluss auf die Wohlstandsverteilung der Welt haben und im Moment ungerecht gestaltet sind, so dass die Menschenrechte wegen Hunger und extremer Armut massiv untererfüllt sind. Zweitens wird dieses Regelwerk von den einflussreichen Regierungen - einschließlich den europäischen - ausgestaltet und durchgesetzt. Zum Dritten schließlich sind wir Bürger dafür verantwortlich, was unsere Regierungen in unserem Namen tun.

Standard: Ihr Doktorvater John Rawls, der vielleicht einflussreichste Gerechtigkeitstheoretiker der letzten Jahrzehnte, war da anderer Meinung.

Pogge: Richtig. Rawls meinte, dass es reichen würde, wenn jene Länder, die politisch einigermaßen wohlgeordnet sind, auf unser Minimalniveau gebracht werden würden. Die übrigen Länder würden uns ohnehin nichts angehen. Ich behaupte demgegenüber, dass wir negative Pflichten haben, etwas gegen die Armut und die Ungerechtigkeit in der Welt zu tun.

Standard: Ihr Kollege Peter Singer verwendet das Bild, dass wir uns - wenn wir nichts gegen die globale Armut tun - so verhalten wie ein Mensch, der an einem See vorbeigeht und das ertrinkende Kind nicht rettet.

Pogge: Auch das halte ich für irreführend und nicht ausreichend: Im Bezug auf die Weltarmut sind wir nicht so unschuldig wie der Passant dafür, dass das Kind in den Teich fiel.

Standard: Müssen wir also unsere Hilfsmaßnahmen verstärken?

Pogge: Diese jetzige Form der Hilfe für die Ärmsten ist so, wie wenn man gegen einen Wind anpusten würde. 10.000 Entwicklungshelfer und Ärzte in diesen Ländern können oft nicht viel mehr ausrichten, als eine einzige Entscheidung eines Rohstoffkonzerns oder eines Investmentfunds zu neutralisieren. Wir müssen das Übel an der Wurzel anpacken und beim globalen Wirtschaftssystem und seinen Regeln ansetzen.

Standard: Worin setzen Sie da die größten Hoffnungen?

Pogge: Politiker werden wenig dagegen tun, wenn sie keinen Druck von unten bekommen, und dieser moralische Druck wird nicht von Firmenchefs oder Bankiers kommen, sondern von uns Bürgern. Insofern ist es wichtig, den Bürgern zu sagen, was wirklich los ist, denn die Informationen, die man über das globale Armutsproblem kriegt, sind ja zum größten Teil geschönt. Zugleich glaube ich, dass die Moral allein nichts ausrichten kann. Allein für sich genommen ist sie eine zu schwache Kraft. Die Moral muss sich gewissermaßen nach Chancen umsehen, wo sie sich mit Klugheitsargumenten verbünden kann.

Standard: Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Pogge: Eine dieser Ideen ist der Health Impact Fund, an dem ich seit einigen Jahren arbeite. Im Grunde geht es dabei darum, die Preise der Medikamente von den Kosten der Forschung abzukoppeln und stattdessen nach ihren Gesundheitsauswirkungen zu bezahlen. Dieses Konzept würde weltweit zu einer besseren Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten gerade für die Ärmsten führen. Das wäre auch ein riesiger moralischer Gewinn. Solche durchdachten Reformen haben wohl am ehesten Aussicht auf Erfolg.

Standard: Was sagen die Pharmafirmen dazu, dass sie künftig Medikamente billiger hergeben sollen?

Pogge: Die sind klarerweise skeptisch. Es ist aber auch so, dass Firmeninteressen nicht immer deckungsgleich sind mit den Interessen ihrer Mitarbeiter. Viele, die als junge Menschen in die Pharmabranche gegangen sind, wollten etwas Gutes tun für die Menschheit. Vor allem die Forscher sind davon beseelt. Die wollen etwas Herausforderndes tun - und zum Beispiel die Malaria besiegen. Sie sind natürliche Verbündete für den Health Impact Fund. Zudem sollen den Pharmafirmen die teuren Medikamente für die reichen Menschen nicht weggenommen werden. Die Firmen können für jedes einzelne Medikament gesondert entscheiden, ob sie es beim Health Impact Fund melden wollen.

Standard: Ließe sich das Modell auch auf andere Bereiche Umsetzen?

Pogge: Man könnte das Modell jedenfalls auf die Agrarwirtschaft ausdehnen. Da gibt es patentiertes Saatgut, das arme Leute nicht verwenden können, weil es zu teuer ist. Auch da wäre es möglich, die Lizenzgebühr auf Null zu reduzieren und den Erfinder nach dem gewonnenen Mehrwert zu prämieren. Das zweite Gebiet wären grüne, nachhaltige Technologien. Auch die werden nicht überall benützt, weil die Patentkosten zu hoch sind.

Standard: Viele Ihrer Ideen hören sich für einen Philosophen überraschend praktisch an. Worum geht es Ihnen bei Ihrer Arbeit? Mehr um die Theorie oder mehr um die Praxis?

Pogge: Mir geht es um zweierlei: Zum einen will ich, dass meine Vorschläge - wie der Health Impact Fund - den strengsten wissenschaftlichen Kriterien genügen. Ich möchte nichts unterstützen, was nicht funktionieren könnte. Die Welt ist ein sehr komplizierter Mechanismus und wenn man den verändern will, dann braucht man dazu ausgereifte Konzepte. Zum anderen habe ich die große Ambition, die Philosophie so zu verändern, dass das, was ich mache, noch hoffähiger wird. Eine gute politische Philosophie ist eine, mit der man in der Welt auch etwas anstellen kann. Das ist übrigens eine Idee, die auf ein kleines Gespräch mit John Rawls etwa 1979 in Harvard zurückgeht.

Standard: Worum ging es dabei?

Pogge: Ich fragte ihn damals, ob sein erstes Gerechtigkeitsprinzip - also der Anspruch auf gleiche Grundfreiheiten, die mit den Freiheiten für alle vereinbar sind - in den USA eigentlich erfüllt sei.

Standard: Was war seine Antwort?

Pogge: Er zuckte nur mit den Schultern und sagte: "Das weiß ich doch nicht." Darauf erwiderte ich: "Aber wer soll das sonst wissen, wenn nicht Sie." Woraufhin er wieder meinte, das sei Sache der Ökonomen oder der Juristen. Dann sagte ich, dass die ja gar nicht wissen, wie sie das anhand seiner Theorie überprüfen sollten. Das hat ihn dann ein bisschen nachdenklich gestimmt. Für mich war das eine Art Schlüsselerlebnis, aus dem ich meine Konsequenzen zog: Wenn man schon moralische Prinzipien der Gerechtigkeit aufstellt, dann muss man auch genaue Kriterien dafür angeben, wie zu beurteilen ist, ob diese Prinzipien realisiert sind oder nicht.

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. Februar 2012)