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Auf der Suche nach einer Erklärung für das eigene Leid tauchen häufig Schuldfragen auf.

Krebspersönlichkeiten erscheinen in vielerlei Hinsicht vorbildhaft: Sie sind ausgeprägt freundlich, sozial angepasst, zurückhaltend, hilfsbereit, friedliebend, selbstlos und stets darum bemüht, niemandem zur Last zu fallen. Kurzum, auf diese Menschen ist hundertprozentig Verlass. Eigenschaften, die jedoch unter dem Verdacht stehen, Krebs auszulösen, werden sie als Unterwürfigkeit, Unsicherheit, reduzierte Emotionalität und Unfähigkeit, eigene Interessen zu verfolgen, interpretiert. Die Idee vom sogenannten Typus carcinomatosus, auch als Typ C bekannt, ist reine Spekulation, der Glaube daran hält sich jedoch hartnäckig. 

Hippokrates und Galenus gelten als Vordenker der psychosozialen Onkogenese, zogen sie doch bereits eine Verbindung zwischen Melancholie und Krebs. Diese Theorie erhielt bis in die Neuzeit große Zustimmung, im 19. Jahrhundert leiteten Ärzte daraus noch Zusammenhänge zwischen Depressionen und Krebs ab. Ein Trugschluss, wie sich zeigte, wurde doch in der Antike unter Melancholie ein Überschuss an schwarzer Galle verstanden, die giftig und damit krebsauslösend wirkte. Geändert hat diese Erkenntnis allerdings nichts. "Im Gegenteil, mit dem Einzug einer einseitigen Auslegung der Psychosomatik wurde dem heutigen Glauben an eine Krebspersönlichkeit auch noch Vorschub geleistet. Dabei wurde bei einzelnen Krankheitsbildern eine Kausalkette zur Persönlichkeit und dem Verhalten generalisiert und ohne Evidenz als allgemeingültige Lehrmeinung auch für Krebs dargestellt", sagt Alexander Gaiger, Hämatologe und Psychoonkologe an der Universitätsklinik für Innere Medizin I am AKH in Wien. Als Brücke zwischen Seele und Krankheit wurde in dieser Betrachtung das Immunsystem deklariert, das, durch persönlichkeitsbedingtes Verhalten angeblich geschwächt, seine Abwehrfunktion verringert.

Interpretation der Lebensgeschichte

Im Zusammenhang mit Überlegungen zur Krebspersönlichkeit existieren mittlerweile zahlreiche Studien. Die meisten davon wurden allerdings retrospektiv durchgeführt. Das bedeutet: Bereits an Krebs Erkrankte wurden untersucht und anhand gefundener Persönlichkeitsmerkmale wurden Rückschlüsse gezogen, welche "Menschentypen" die Betroffenen schon vor ihrer Erkrankung waren. "Das ist nicht zulässig, da die Erfahrung einer lebensbedrohlichen Krankheit einen Einfluss auf die Persönlichkeit und Interpretation der eigenen Lebensgeschichte hat", so der Psychoonkologe.

In den wenigen prospektiven Studien, die gemacht wurden, haben Wissenschaftler Personen über Jahre hinweg beobachtet und untersucht, ob bestimmte Persönlichkeitsmerkmale eine spätere Erkrankung prognostizierbar machen. Stimmige Zusammenhänge fanden sie jedoch nicht. Vielmehr häufen sich indessen die Hinweise, dass die hohen Depressivitätsraten unter Krebskranken auch als Folge der Erkrankung und Therapie verstanden werden können und den Verlauf der Krebserkrankung eventuell beeinflussen. 

Für krebskranke Menschen besitzen empirische Studien jedenfalls eine geringe Relevanz, viel mehr geht es hier um gefühlte Plausibilität. "Die Diagnose Krebs ändert das Leben der Betroffenen im Bruchteil einer Sekunde. Dinge, die bis zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich waren, werden plötzlich in Frage gestellt", weiß Gaiger. Der Erkrankung ausgeliefert, wollen Erkrankte das Unbegreifbare verstehen. Beim Krebs umso mehr, als seine Ursache anders als beispielsweise bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen schwer fassbar ist. Auf der Suche nach einer Erklärung für das eigene Leid tauchen dabei häufig Schuldfragen auf. Die Vermutung, dass bestimmte Charakterzüge ursächlich für die Entstehung von Krebs verantwortlich sind, wird von vielen betroffenen Menschen ganz spontan assoziiert. "Diese Selbstanklagen erfüllen insofern ihren Zweck, als die Hoffnung besteht, dass durch Änderung bestimmter Wesenszüge die Genesung gefördert wird", erklärt der Experte und betrachtet die Auseinandersetzung mit dem Mythos Krebspersönlichkeit und dem vermeintlich schuldhaften Verhalten als vergeudete Energie.

Traumatische Erfahrungen

Nicht immer findet das seelische Ungleichgewicht seine Begründung jedoch in einer eventuell vorhandenen Krebspersönlichkeit. "Eine Überlegung, bezogen auf den Einfluss psychischer Faktoren, war auch, dass massive Traumata in der Vergangenheit zum Ausbruch einer Krebserkrankung führen könnten", so Gaiger. Eine Hypothese, die der Hämatologe allerdings sofort widerlegt: "Das mittlere Alter von Krebspatienten liegt zwischen 57 und 60 Jahren. Und so traurig es ist, aber in diesem Alter hat bereits fast jeder eine traumatische Erfahrung hinter sich."

Demnach müsste nicht nur praktisch jeder 60-Jährige unter einer Krebserkrankung leiden, sondern auch sämtliche Menschen, die in Kriegsgebieten leben beziehungsweise Opfer von Naturkatastrophen sind. "Das ist aber keineswegs der Fall", ergänzt Gaiger und bezeichnet Krebs nach dem heutigen Verständnis selbst als Naturkatastrophe. 

Ebenso wie Tsunamis und Erdbeben entstehen nämlich auch Krebserkrankungen multifaktoriell. "Typischerweise wird psychischen Faktoren, die für die Entstehung einer schweren Erkrankung eigentlich irrelevant sind, eine sehr große Bedeutung beigemessen, während hochrelevante Umstände für die Entstehung oder den Verlauf einer Krankheit völlig ignoriert werden", betont der Psychoonkologe und nimmt hier Bezug auf den sozioökonomischen Status und Lebensstil.

Armut, Bildungsmangel, hoher BMI, ungesunde Ernährung und wenig körperliche Bewegung macht er im Wesentlichen für den Umgang und die Bewältigung einer Krebserkrankung verantwortlich. "Geld ändert zwar nichts am menschlichen Leid, erleichtert aber den finanziellen Druck und ist neben einem Informationsmangel ein gravierender Faktor in der Entwicklung von Depressionen", ergänzt er.

Onkologische Rehabilitation

Um das Puzzle Leben neu zusammenzusetzen, wäre seiner Einschätzung nach eine befruchtende Begegnung zwischen dem behandelnden Arzt und dem Patienten sinnvoll. Diese rückt durch die standardisierte Medizin jedoch zunehmend in den Hintergrund. "Stattdessen werden Theorien und Ideologien als Hilfsmittel herangezogen, um diese Aufgabe zu bewältigen", so Gaiger.

Als Psychoonkologe steht er den Patienten unterstützend zur Seite. Mit fokussierten Kurzzeittherapien gilt es unter anderem Schuldfragen zu klären, den Patienten Wege aus ihrer Hilflosigkeit und Verunsicherung zu zeigen und Ressourcen zu mobilisieren. Zunehmend mehr Bedeutung bekommt auch die onkologische Rehabilitation, die sich vorrangig mit der Reintegration von Krebspatienten in die Gesellschaft und der Verbesserung der Lebensqualität auseinandersetzt. "Damit rücken wir dem Ziel 'Vom Überleben zum Leben' ein Stück näher", resümiert Gaiger. (derStandard.at, 10.2.2012)