Herrscher über die Bahnhofsuhren und leiser Beobachter des Alltagslebens: Hugo (Asa Butterfield), der kindliche Held aus Martin Scorseses elfmal Oscar-nominiertem "Hugo Cabret".

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Im Mittelpunkt der überbordenden Ode an die imaginären Möglichkeiten des Kinos steht ein Waisenjunge, der in einem Bahnhof lebt.

Wien - Am oft lotterig wirkenden Einsatz von 3-D-Technologie lässt sich ablesen, wie verzweifelt sich das zeitgenössische Kino gegen mediale Konkurrenz zu behaupten sucht. Ob sich diese langfristig durchsetzt, ist längst nicht ausgemacht. Doch wenn sich ein wichtiger und anerkannter Regisseur wie Martin Scorsese dieses visuellen Illusionsmittels annimmt, ist Aufmerksamkeit angebracht: Es sind schließlich Arbeiten von erfindungsreichen Geistern wie ihm, mit denen sich entscheidet, wie viel Potenzial in dem Budenzauber tatsächlich steckt.

James Camerons zumindest technologisch bahnbrechender Film Avatar lieferte darauf eine Antwort, indem er eine - uneingelöste - Zukunft des Mediums aufzeigte. Scorseses Hugo Cabret versteht sich hingegen als Hommage an die Vergangenheit des Kinos und betreibt eine beispiellose Rückbesinnung auf dessen früheste Illusionen - anders als The Artist mit den Mitteln von heute. Der Italoamerikaner Scorsese ist als bekennender Cinephiler auch für seine filmvermittelnden Arbeiten und Restaurierungsbemühungen bekannt.

Seine Adaption des ungewöhnlichen Bilderromans The Invention of Hugo Cabret von Brian Selznick spiegelt seine Faszination für das Medium auf vielfältige Weise wider. Zuallererst wohl als Ode an alles Mechanische, die diesen Film, einen ganz bewusst so geplanten Familienfilm, wie eine Tour durchs technische Museum wirken lässt: ein mechanischer Mensch (der wie ein Requisit aus Fritz Langs Metropolis erscheint), zu dem der ihn startende Schlüssel fehlt; zahllose Uhren und Räderwerke; ein Bahnhof als Hauptort des Geschehens, an dem das einstige Symbol des Fortschritts, die Eisenbahn, hält. Von da ist es nur ein kleiner Gedankenschritt zur entsprechenden Kunstform, dem Kino, und einem ihrer ersten Meister, dem Franzosen Georges Méliès (im Film von Ben Kingsley verkörpert). Er war der Erfinder des Kinos als Illusions- und Zaubermaschine.

Nicht sparsam mit Reizen

Scorseses Film ist aber selbst wie eine Wundertüte konzipiert. Hugo Cabret erschafft eine abgeschlossene Welt, ähnlich solcher, die idyllisch hinter dem Glas einer Schneekugel liegen: Das gemalte (und teils computeranimierte) Paris-Bild funkelt nostalgisch und geizt nicht mit optischen Reizen - in so intensivem Kontrast zu Selznicks Schwarz-Weiß-Vorlage, dass einem durchaus schwindlig werden kann. Zentraler Held ist der Waise Hugo (Asa Butterfield), ein mittelloser Bub wie aus einem Charles-Dickens-Roman, dessen Perspektive der Film einnimmt - durchaus virtuos, wie schon eine frenetische Sequenz durch Tunnels und Treppen am Beginn des Films demonstriert.

Hugo lebt in einem der vergessenen Schächte dieses Bauwerks und sorgt dort dafür, dass die mächtigen Uhren nicht zum Ticken aufhören. Die anderen Figuren sind typenhaftes Personal aus dem Stummfilmkatalog: allen voran der Gendarm mit Beinprothese (Sacha Baron Cohen), der Kinderschreck dieses Schauplatzes, der es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht hat, streunende Waisen einzufangen. Eine der komischsten (und minimalistischsten) Einstellungen des Films: sein im 3-D-Modus langsam näherrückendes fieses Gesicht.

Andere erzählerische Miniaturen rund um Alltagsabläufe am Bahnhof, mit denen Scorsese die Sketches der Stummfilmzeit zitiert, wirken dafür etwas forciert. Der größere erzählerische Bogen führt jedoch ohnehin anderswohin - zu Hugos persönlicher Suche nach einer familiären Heimstatt. Ein etwas sentimentaler, manchmal konstruiert wirkender Plot, der allerdings dadurch gewinnt, dass er unaufhörlich das Kino selbst zum Thema macht: Méliès, dem verbitterten Kinomagier im Ruhestand, von Scorsese in fröhlicher Ehrerbietung wieder zum Leben erweckt, kommt dabei eine entscheidende Rolle zu.

Die schönsten Momente aus Hugo Cabret sind so vielleicht jene, in denen die Euphorie dieser Pioniertage zum Ausdruck kommt. Man spürt förmlich den Spaß, den ein filmbegeisterter Regisseur dabei hatte, mehr als hundert Jahre später den Dreh zu Die Reise zum Mond samt Nymphen und anderer betörender Kreaturen nachzustellen. Ganz ohne Kulturpessimismus werden Scorsese 3-D und die digitalen Zaubertricks zum Mittel, die lange Tradition eines Kinos der Attraktionen zu zelebrieren.

Es war bekanntlich Hollywood, das sich dieses imaginäre Potenzial von Film zu eigen machte. Da passt es ins Bild, dass Hugo Cabret mit elf Nominierungen als Favorit in die Oscar-Verleihung geht. Hier kommt die Vergangenheit des Kinos als heranrasende Eisenbahn der Brüder Lumière, vor der das Kinopublikum einst erschrak, in der Gegenwart an. Hugo Cabret erzählt aber auch davon, wie viel Aufwand solcher Sinneskitzel heute bedarf. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, Printausgabe, 8.2.2012)