Spiel mit alten Formen: Bérénice Bejo als aufstrebender Star Peppy Miller in Michel Hazanavicius' Stummfilm "The Artist".

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Michel Hazanavicius: "Ich bin begeistert von Filmgeschichte. Man muss die Regeln kennen, um sie brechen zu können."

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Bert Rebhandl sprach mit ihm über seinen Stummfilm.

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Wien - Von Zeit zu Zeit taucht im Kino ein Film auf, mit dem nicht zu rechnen war. Um so einen Fall handelt es sich bei The Artist von dem Franzosen Michel Hazanavicius, der davor vor allem durch Agentenfilmparodien aufgefallen war. Er erzählt hier eine Geschichte aus den Tagen, in denen der Stummfilm vom Tonfilm abgelöst wurde - der Star George Valenti (Jean Dujardin) wird von der Entwicklung abgehängt und verfällt in Selbstmitleid. Doch auch er bekommt eine zweite Chance, ein aufstrebender weiblicher Star (gespielt von Bérénice Bejo, der Frau von Hazanavicius) spielt dabei eine zentrale Rolle.

Seit der Premiere in Cannes hat The Artist einen weltweiten Siegeszug angetreten - ein erstaunliches Phänomen angesichts dessen, dass es sich hier um einen prototypischen Metafilm handelt, der von Images handelt, mit Zitaten prunkt und mit der Gegenwart gar nichts zu tun hat. Doch im Gespräch erweist sich Michel Hazanavicius als genuiner Verfechter der strikt visuellen Ausdrucksmittel des frühen Kinos, und gerade darin ist er dann doch wieder ein sehr zeitgenössischer Künstler. Als er mitbekommt, dass dieses Gespräch für eine Zeitung in Wien stattfindet, horcht er auf: "Wien? Das ist die Stadt meines Lieblingsregisseurs: Billy Wilder."

STANDARD: Billy Wilder, ein Weltbürger aus Wien. Was mögen Sie an ihm?

Hazanavicius: Ich mag die Freiheit, mit der er seine Themen gewählt hat. Sein Humor hat sich so gut gehalten. Er hat viel Zärtlichkeit für seine Figuren, aber auch Grausamkeit und Luzidität. Er ist nicht dumm, er kann sarkastisch sein, aber er liebte die Menschen. Und neben seinem "spirit" ist er auch ein toller Regisseur.

STANDARD: Billy Wilders "Sunset Boulevard" ist ein deutliches Vorbild für "The Artist". Nur ist in Ihrem Fall die "Diva" ein Mann. Wie kamen Sie auf die Idee?

Hazanavicius: Die Ursprünge liegen über zehn Jahre zurück. Ich musste vor allem mich selbst überzeugen. Vor sechs Jahren habe ich mit Produzenten gesprochen, damals konnte ich das noch nicht ausreichend überzeugend vertreten. Ich habe noch nicht an mich geglaubt. Nach dem zweiten OSS 117 (OSS 117 - Er selbst ist sich genug, 2009) erst hatte ich das Selbstvertrauen. Die Sehnsucht aber ist alt. Mein Großvater nahm mich und meinen Bruder häufig in ein Pariser Kino mit, das nur Stummfilme zeigte, allerdings waren das in erster Linie die Komiker, Slapstick von Max Linder bis Buster Keaton. Erst vor 12, 13 Jahren entdeckte ich die großen Regisseure des frühen Kinos, und mir wurde klar: Das ist eine genuine Ausdrucksform, kein behinderter Film.

STANDARD: Worin liegt denn der wesentliche Unterschied?

Hazanavicius: Der Unterschied liegt nicht nur in der Sprache. Ich wollte zu einer bestimmten Form von Unschuld zurück. Mir gefällt das, wenn Filme unschuldig sind, wenn sie uns Geschichten so erleben lassen, wie wir sie als Kinder erlebt haben. Durch die Sprache erst werden Geschichten rational und intellektuell, Informationen werden geteilt. Das ist eine Hälfte des Gehirns, die da beansprucht wird. Die andere Form kann jedes Kind, jeder Fremde verstehen. Aber Verstehen ist gar nicht das richtige Wort, es geht eher um Fühlen, um unmittelbares Begreifen.

STANDARD: Wie haben Sie denn den Hauptdarsteller Jean Dujardin auf die Rolle vorbereitet?

Hazanavicius: Ich wollte nicht, dass er sein Schauspiel umstellt, sondern er sollte natürlich agieren. Er hat sich Douglas Fairbanks angesehen, aber nur wegen einer bestimmten Energie. Ich musste ihm ein paar Klassiker zeigen, um ihm diese Kultur nahezubringen: The Crowd von King Vidor, die beiden amerikanischen Filme von Murnau, City Girl und Sunrise, ein, zwei von Sternbergs wie Underworld oder The Docks of New York. Ich sagte zu ihm: Lass mich die Geschichte erzählen, du musst nur das machen, was du immer machst.

STANDARD: War es technisch anspruchsvoll, noch einmal in die "primitive" Phase des technischen Mediums Kino zurückzugehen?

Hazanavicius: Technisch hat sich vor allem das Schreiben verändert. Die Ziele sind die gleichen: Ich möchte Figuren zeigen, die Menschen etwas bedeuten. Gute Szenen, ein wenig Spaß. Am Set ist das gar nicht so viel anders, auch die Schauspieler taten weitgehend das, was sie sonst auch tun - außer Stepptanzen. Bei der einen oder anderen Szene habe ich einen sehr modernen Kran verwendet, aber Murnau hat auch schon sehr raffinierte Einstellungen gemacht, oder Frank Borzage. Der hat für The Seventh Heaven eine aufwändige Lifteinstellung gebaut und gedreht. Ich verehre das Slapstick-Kino, ich will das gar nicht dagegen ausspielen, aber ich liebe die großen Regisseure des frühen Kinos.

STANDARD: Hat der Erfolg von "The Artist" vielleicht auch etwas damit zu tun, dass wir diese Verlusterfahrung so gut nachvollziehen können - schließlich geht das Kino ja gerade ins Digitale hinein verloren?

Hazanavicius: Ich glaube nicht. Als die Tonfilme kamen, da ging etwas verloren, eine gewisse Intimität zum Beispiel, denn man musste wegen der Mikrofone sehr laut sprechen. Dann kamen aber Regisseure, die wussten damit etwas anzufangen. Lubitsch zum Beispiel fand seinen "touch" erst im Tonfilm. Auch Wilder ist undenkbar ohne Dialog. Es war also insgesamt ein Gewinn. Aber diese andere Ausdrucksform wurde nur noch von ein paar Eigensinnigen wie Jacques Tati weitergeführt, und nicht immer gleichen sich Gewinn und Verlust vollständig aus.

STANDARD: Sie interessieren sich ja von Beginn Ihrer Karriere an für Filmgeschichte. Woher nehmen Sie dann die Leichtigkeit angesichts der übermächtigen Vorgänger?

Hazanavicius: Ich bin begeistert von Filmgeschichte, will mich aber nicht einschüchtern lassen. Man muss die Regeln kennen, um sie brechen zu können. Hitchcock, Ford, Lang haben alle im Stummfilm begonnen - das gibt ihrem Geschichtenerzählen eine Eleganz, die nicht leicht nachzumachen ist. Sie machen Kino, mir geht es vor allem um die Ausdrucksmittel. Als Nächstes werde ich etwas Einfaches machen, was ganz besonders schwierig ist. (Bert Rebhandl, DER STANDARD - Printausgabe, 24. Jänner 2012)