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"Dass Menschen durch Singen wieder zum Sprechen finden, haben wir schon lange gewusst, bevor es Studien dazu gab. Auch Ergo- oder Logopäden praktizieren das intuitiv", weiß Wilfried Lang...

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... Vorstand der Abteilung für Neurologie und neurologische Rehabilitation im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien.

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Im Erdgeschoß des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder in Wien wird gesungen. Hier befindet sich der Raum für Ergotherapie, in dem Menschen, die in ihrer Selbstständigkeit und Handlungsfähigkeit beeinträchtigt sind, durch einfache manuelle Tätigkeiten wie Malen, Basteln, Handarbeiten zurück ins Leben finden sollen.

Schädel-Hirn-Trauma, Wirbelsäulenverletzung oder Schlaganfall lauten die häufigsten Diagnosen der Patienten, die die Ergotherapie für neurologische Rehabilitation in Anspruch nehmen. In der Gruppe ist eine 70-jährige Patientin, die kurz vor Weihnachten unter dramatischen Umständen auf der neurologischen Station aufgenommen wurde. Das Hauptgefäß in ihrer linken Gehirnhälfte war verschlossen. Sie litt unter Aphasie - einer erworbenen Störung der Sprache aufgrund einer Schädigung in der dominanten (linken) Hemisphäre des Gehirns.

"Wenn jemand nicht mit euch sprechen kann, singt mit ihm"

"Das Gerinnsel konnte zwar mechanisch herausgezogen und damit die Patientin vor einer halbseitigen Lähmung bewahrt werden, die Sprachregion im Temporallappen war jedoch verletzt", berichtet Wilfried Lang, Vorstand der Abteilung für Neurologie und neurologische Rehabilitation im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. "Bei dieser Patientin war es höchst eindrucksvoll: Während der Ergotherapie hat sie gesungen und konnte Sätze bilden, die sie beim Sprechen nicht bilden konnte. Durch die Musik ging das plötzlich fließend."

Das sei ein sehr positives, motivierendes Erlebnis für die Patientin, weiß Lang, der schon als Student im Neurologieunterricht gehört hat: "Wenn jemand nicht mit euch sprechen kann, dann singt mit ihm." Während des Studiums in Ulm schickte ihn sein Professor mit einem Aphasiker ins Wirtshaus zum Stammtisch, damit dieser dort seine Lieder singen konnte. "Dass Menschen durch Singen wieder zum Sprechen finden, haben wir schon lange gewusst, bevor es Studien dazu gab. Auch Ergo- oder Logopäden praktizieren das intuitiv."

Musik aktiviert beide Seiten des Gehirns

Seit kurzem gibt es nun die ersten repräsentativen Forschungsergebnisse zur Wiederherstellung des Sprechvermögens durch Singen. Maßgeblich daran beteiligt ist Gottfried Schlaug, Leiter des Music and Neuroimaging Laboratory an der Harvard Medical School. Der Neurologe stammt aus Köln und war dort Schüler des Wiener Neurologen Wolf-Dieter Heiss am Max-Planck-Institut und an der Neurologischen Universitätsklinik, bevor er in die USA ging.

Schlaug und sein Team präsentierten im Februar 2010 erstmals eine effektive Therapiemaßnahme für Schlaganfallpatienten in Form von Singen: die "Melodic Intonation Therapy" (MIT). Videoaufnahmen zeigen Patienten mit Sprachstörungen, die kaum einen Text sprechen, aber denselben Text singen können. Ein Effekt, den Schlaug folgendermaßen erklärt: Während das Sprachzentrum auf die linke, rationale, analytische Hirnhälfte beschränkt ist, aktiviert Musik beide Seiten des Gehirns. Die betroffenen Hirnzentren bauen neue, dauerhafte Verbindungen auf, sodass die Patienten über den Weg der Musik wieder sprechen lernen können.

Durch Forschungsergebnisse zu Therapie-Methoden

"Neu für uns ist, dass wir damit eine wissenschaftlich basierte Methodik haben, wie man die Hilfsmittel Melodie, Klang oder Rhythmus einsetzt, um bei Aphasie wieder auf die Sprache zugreifen zu können", sagt Wilfried Lang und konkretisiert: Wenn ein Kind die Sprache erwirbt, sind in der linken Gehirnhälfte Teile des Temporal- und Frontallappens beteiligt. Aber auch die rechte Hirnhälfte, der kreative, räumliche Wahrnehmung zugeschrieben wird, ist für sprachliche Kompetenz zuständig, etwa beim Erlernen einer zweiten Sprache. Auch beim Wiedererlernen der Sprache ist das Netzwerk ein viel größeres als beim erstmaligen Erlernen einer Sprache.

Der Neurologe bringt ein Beispiel: "Ich frage einen global aphasischen Patienten, der über kein Sprachverständnis und keine Sprachfunktion mehr verfügt: 'Wie geht es Ihnen?' Er versteht das als eine Frage und antwortet mit einem Antwortsatz: 'Tatamtatam.' Sein Denken ist nicht beeinträchtigt. Er möchte vielleicht sagen: Danke, heute ist ein schöner Tag, kann aber nur 'Tatamtatam' sagen." Melodie und Rhythmus der Sprache sind für ihn erkennbar, und diese sind in der rechten Gehirnhälfte verankert.

Die richtige Situation zum Singen finden

Patienten fangen nicht von sich aus zu singen an, wenn sie etwas ausdrücken wollen, "dafür sind die Hemmungen zu groß", berichtet Lang aus dem Krankenhausalltag, "und bei einer Visite wird es nicht sonderlich gut wirken, wenn die Ärzte zu singen beginnen". In der Ergotherapie beim Brötchenbacken gemeinsam zu singen sei dagegen eine natürliche Sache.

Das Team auf der Neurologie versucht die richtigen Situationen zu finden, um Kommunikation auf allen Wegen zu erlangen. So arbeitet man am Anfang oft mit Bildertafeln. Oder lässt die Neurologie-Patienten einzelne Wörter rhythmisch und in Sequenzen aufzählen. "Manchmal beginnt ein Patient zu singen, und erst später wird ihm bewusst, was er da vollbracht hat. Das ist eine unglaublich positive Erfahrung", erzählt Lang.

Gesungen werden meistens bekannte Lieder. Dass aphasische Patienten die Worte, die sie ausdrücken möchten, in eine eigene Melodie fassen, komme auf seiner Station noch nicht vor, meint der Leiter der Neurologie. Die strukturelle Rehabilitation der Sprache wird bei den Barmherzigen Brüdern derzeit noch eher intuitiv als systematisch eingesetzt.

Die Ressourcen der Patienten nutzen

Singen in der Ergotherapie öffnet einen Kanal für die Logotherapie. Menschen, die mit Handbewegungen Schwierigkeiten haben, können oft mit Malen Unglaubliches bewirken. Parkinsonpatienten können sich, wenn man ihnen einen Rhythmus vorgibt, manchmal wieder bewegen. "Wir versuchen immer, die Ressourcen der Patienten zu nutzen", betont Lang. Doch Zeit und Budget sind die knappsten Ressourcen im Gesundheitssystem. So erfordert zum Beispiel eine MIT-Therapie nach Gottfried Schlaug mindestens 75 Sitzungen.

Nicht zuletzt deshalb gelte es, in Zukunft auch Pflegepersonal, Angehörige und Freunde stärker einzubinden, setzt Wilfried Lang auf Teamarbeit: "Eine Aufgabe der Neurologie ist, die Autonomie jedes Menschen zu fördern. Dafür bedarf es Zeit. Es ist immer einfacher, wenn jemand vom Pflegepersonal gewaschen wird, als ihm langsam beizubringen, wie er sich wieder selbst waschen kann. Doch wenn das Pflegepersonal weiß, dass der Patient singt, dann kann das im täglichen Handeln fortgeführt werden - mit unglaublichem Gewinn."

Langs Vision für die Zukunft sind ambulante, multidisziplinäre Therapiezentren, in denen man gemeinsam mit den Angehörigen die Fähigkeiten von Patienten entdecken kann, auf dass diese auch zu Hause trainiert werden. (derStandard.at, 31.01.2012)