Auf- oder Abstieg mit der Neuen Mittelschule? Im laufenden Schulversuch lernen NMS- und AHS-Schüler nach demselben AHS-Lehrplan, der Gesetzes- entwurf für die NMS sieht nun zwei Allgemein- bildungen vor: "grundlegende" und "vertiefte" - und "umfassend und vertiefte" in der AHS.

Foto: Der Standard/Newald

Das NMS-Gesetz ist ein Fortschritt gegenüber dem alten Hauptschulsystem, aber auch ein Rückschritt im Vergleich zum laufenden NMS-Modell.

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Wien - Mein Kind sitzt in der Premium-Klasse. Unsere lernt in der "First"-Class. Der von den Nachbarn wurde nur in die "Economy" gesetzt. Premium, First, Economy? Bahnfahren? Nein, Schule.

Kritiker des Gesetzesentwurfs zur Neuen Mittelschule (NMS) befürchten genau das. Dass nämlich mit dem vorliegenden Gesetz auch im Schulsystem nach dem Modell der ÖBB-Wagenklassen neben der "Premium-Schule" AHS in der NMS eine Zweiklassengesellschaft Einzug halten könnte.

Ein Grund für diese Angst ist ein Abgehen von der derzeitigen Praxis im NMS-Schulversuch, bei dem die Schülerinnen und Schüler wie die in der AHS eine "umfassende und vertiefte Allgemeinbildung" erwerben und ein Realgymnasiumszeugnis ausgestellt bekommen, was gleiche Aufstiegschancen für Kinder in der NMS und der AHS-Unterstufe sicherstellen sollte. Im Gesetzesentwurf für die NMS, in die bis 2018 alle Hauptschulen umgewandelt werden sollen, ist davon keine Rede mehr. Die NMS sollen keine Realgymnasiumszeugnisse mehr ausstellen dürfen, es wird ein eigenes Bewertungssystem für den NMS-Bereich eingeführt.

NMS-Schüler sollen in den "differenzierten Pflichtgegenständen" (Deutsch, Mathematik, lebende Fremdsprache, ein alternatives Pflichtfach) "nach den Anforderungen des Lehrplans nach grundlegenden und vertieften Gesichtspunkten" beurteilt werden.

"Diskriminierend"

Das, aber auch die "temporäre Bildung von Schülergruppen" erinnere sehr an den "A- und B-Zug in der alten Hauptschule", kritisiert der Bildungssprecher der Grünen, Harald Walser, der NMS-Schüler damit benachteiligt sieht.

Auch die Industriellenvereinigung (IV) findet die Einteilung des Lehrstoffs in grundlegend und vertiefend "diskriminierend". Sogar der Landesschulrat für Oberösterreich, sicher kein Hort der Gesamtschulbefürworter, warnt in seiner Stellungnahme: "Die mit Abschluss einer Klasse der Neuen Mittelschule oder mit dem Bildungsgang erworbenen Berechtigungen und die zu erstellenden Lehrpläne dürfen zu keiner Benachteiligung für die Schüler/-innen der NMS führen. Die , vertiefende' Allgemeinbildung muss mit den Lehrplänen der AHS ident sein. (...) Keineswegs sollen die Ziele einer ,grundlegenden' und , vertiefenden' Allgemeinbildung indirekt zu einer Wiedereinführung des , A- bzw. B-Zugs' führen."

Im Gespräch mit dem Standard erklärt Landesschulratspräsident Fritz Enzenhofer (ÖVP), was damit gemeint ist: "Wenn ich ein Schelm bin und Böses denke, kann ich behaupten, das wären zwei Klassenzüge." Es sei nur wichtig, bei der Umsetzung der NMS den Eltern klar zu signalisieren, dass es kein automatischer Vorteil sei, wenn ein Kind die AHS-Unterstufe besuche (und sei es dort noch so schlecht), weil es dort die Berechtigung zum Wechsel in die Oberstufe problemlos erwerben könne, und Kinder in der NMS nicht. Es dürfe keine Hürde eingebaut sein, die den Übertritt von der NMS ins Gymnasium systematisch erschwere.

Als solche könnte eine Passage im Entwurf interpretiert werden, wonach es für Schüler, die nach "vertiefter" Allgemeinbildung beurteilt werden, keine schlechtere Note als Genügend geben darf, "anderenfalls hat lediglich eine Beurteilung nach den Anforderungen der grundlegenden Allgemeinbildung zu erfolgen" - schon klebt das Pickerl "grundlegend" auf dem Schüler, das einen AHS-Aufstieg ohne Aufnahmeprüfung oder Ja der Klassenkonferenz unmöglich macht. Dann schon lieber mit einem Fünfer und Wiederholungschance in der AHS-Unterstufe kalkulieren, als ein "Grundlegend" in der NMS zu riskieren.

Warum aber diese Unterteilung in zwei Allgemeinbildungsniveaus? Weil es im Laufe des NMS-Schulversuchs "massive Elternproteste" gegeben habe, sagt ÖVP-Bildungssprecher Werner Amon zum Standard: "20 bis 30 Prozent der Kinder in der NMS können die Lehrpläne des Realgymnasiums einfach nicht erfüllen, für sie hätte das bedeutet, dass sie am Ende nicht einmal einen positiven NMS-Abschluss hätten, weil ihre Leistungsbeurteilung ausschließlich nach AHS-Lehrplan erfolgt."

Weder werde es A- und B-Zug geben noch "starre Leistungsgruppen" wie früher, sondern: "Das erreichte Bildungsziel soll im Zeugnis abgebildet werden." Konkret heißt das, dass ab der dritten Klasse im Zeugnis ausgeschildert ist, ob der NMS-Schüler "vertiefte" Allgemeinbildung erworben hat und damit AHS-reif ist oder ob die NMS "grundlegend" allgemeingebildet beendet wurde.

Das Zeugnis als Eintrittskarte in die AHS ist es auch, das 23 Grazer NMS-Direktoren in ihrer Stellungnahme betonen. Die NMS müssten auch in Zukunft Realgymnasiumszeugnisse ausstellen dürfen.

Neue Unterschiede schaffen

Klaus Tasch, Direktor in der Klusemannstraße in Graz, eine der wenigen AHS, die seit 2008 im NMS-Versuch mitmacht (und schon viele Jahre davor in der Unterstufe mit fünf Grazer Hauptschulen eine Kooperative Mittelschule bildete), sagt zum neuen NMS-Zeugnis, das AHS-wertig sein soll, aber eben doch nicht so heißen darf: "Das ist eine neue Kategorie, die wieder Unterschiede erzeugt." Und viel Erklärungsbedarf den Eltern gegenüber mit sich bringt. Deren Position werde im neuen Gesetz auch geschwächt, denn bisher konnten sie selbst entscheiden, ob ihr Kind nach AHS- oder Hauptschullehrplan mit Leistunggruppen benotet werden soll. In der NMS-Zukunft sollen das die Lehrer entscheiden.

Das NMS-Gesetz sei ein "Fortschritt gegenüber dem derzeitigen Hauptschulsystem, aber auch ein Rückschritt im Vergleich zum laufenden NMS-Modell", sagt Tasch zum Standard. Fortschritt, weil es "wirkliches Bemühen zeigt, dass man auf die Schüler anders zugeht und fortschrittliche Pädagogik wie individualisiertes Lernen und Teamteaching implementieren will. Und: nicht zu vergessen: Es kommen Ressourcen hinzu."

Alles in allem ist den Grazer NMS-Direktoren der Entwurf aber zu wenig. Ihr letzter Satz lautet: "Die Grundgedanken der Neuen Mittelschule, nämlich Chancengerechtigkeit, Leistungsförderung und Individualisierung, können mit diesem Entwurf nicht umgesetzt werden." Im Klartext: Echte Gesamtschule ist die NMS keine.

Das Unterrichtsministerium betont, dass jeder Schüler, der in den Hauptfächern "vertiefte Bildung" bescheinigt bekommt, einen der AHS-Unterstufe gleichwertigen Abschluss hat. Mit einem Einser oder Zweier in der "grundlegenden" Allgemeinbildung könne man flexibel in die "vertiefte Allgemeinbildung" aufsteigen. Und SP-Bildungssprecher Elmar Mayer unterstreicht, dass mit dem Gesetzesentwurf etwa Teamteaching (ein Pflichtschul- und ein AHS-/ BHS-Lehrer gemeinsam) weiterhin finanziell abgesichert sei.(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD; Printausgabe, 12.12.2012)