Keine familiäre Geborgenheit schützt vor den Verwerfungen des Lebens: Jessica Chastain und Brad Pitt in Terrence Malicks überwältigendem Epos "The Tree of Life", das in Cannes dieses Jahr die Goldene Palme erhalten hat.

Foto: Filmladen

Wien - Zu welchen Erinnerungen kehren wir immer wieder zurück? Welche davon sind geeignet, unser Innerstes zu definieren, den Kern unseres Selbst, mit dem wir ein Leben lang auf die eine oder andere Weise zu kämpfen haben?

Sind es die ephemeren Momente, uneinholbar in ihrer Einmaligkeit, die erst jeden Einzelnen von seinem Nächsten abgrenzen, ihn also zu einem einzigartigen Individuum machen?

Gewichtige Fragen, fürwahr - aber deshalb schon zu groß für einen Film? Eine eigene Form der Maßlosigkeit umgibt Terrence Malicks neuen Film The Tree of Life wie eine Aura und ließ die Meinungen über den späteren Gewinner der Goldenen Palme schon bei der Pressevorführung in Cannes auseinandergehen. Wo die einen vom vermeintlich religiösen Habitus des Films irritiert waren, ihn als New-Age-Fantasie abkanzelten, sahen andere ein Werk, das im existenziellen Gefälle einer Kleinfamilie kosmische Dimensionen entdeckt - und damit auch dem Kino neue Möglichkeiten aufzeigt.

Maßlos ist The Tree of Life, mehr noch als Malicks frühere Filme, vor allem in seiner Rücksicht auf die kleinen Dinge, deren Flüchtigkeit er hier die größte Aufmerksamkeit schenkt. Es gibt keinen größeren erzählerischen Bogen mehr wie im Liebesdrama The Days of Heaven, im Kriegsepos The Thin Red Line oder in seiner Pocahontas-Bearbeitung The New World, in denen die charakteristischen visuellen Abschweifungen des Regisseurs noch die Ausnahme waren. Statt einer (auch mehrstimmigen) Geschichte zu folgen, fädelt er nun nur noch eigenständige Ereignisse auf: Impressionen einer Kindheit in Waco, Texas, in den 1950er-Jahren; ein Ort, an dem der 1943 geborene, äußerst öffentlichkeitsscheue US-Regisseur selbst aufgewachsen ist - nicht das einzige Indiz dafür, dass es sich um einen persönlichen Film handelt.

Sean Penn spielt Jack, den ältesten von drei Söhnen der Familie O'Brien, der aus einer nicht näher bestimmbaren Gegenwart sich seiner familiären Vergangenheit vergewissert. Die Kürze dieser Szenen, im Ambiente eines urbanen Glasbaus, lässt sie schematischer als andere Teile des Films wirken. Die Figur des gealterten, aber keineswegs geläuterten Jack benötigt der Film jedoch als Fluchtpunkt, ohne dass er daraus eine simple Geschichte der Aussöhnung macht.

Eher geht um den Schmerz eines lebenslangen Verlusts, den Rauswurf aus dem kindlichen Paradies: ein Konflikt, der sich zwischen der Autorität eines Vater (Brad Pitt) und dem Geborgensein bei einer Mutter (Jessica Chastain) abspielt. Malick denkt ihn jedoch ein ganzes Stück weiter, hin zu jenem zwischen der Natur und dem menschlichen Prinzip der Gnade.

Schwerelose Kamera

Die schon in Cannes besonders kontrovers diskutierte Passage kommt im ersten Drittel des Films. "Mother?", "Father?", wird bange aus dem Off gefragt, bevor Malick mit einer an Stanley Kubricks 2001 - Odyssee im Weltall gemahnenden Geste an die Anfänge des Universums, den Nullpunkt der Evolution zurückführt. Emmanuel Lubezkis aller Schwerkraft enthobene Kamera führt entlang des Geäst eines Baumes und entkoppelt sich früh von jeder menschlichen Perspektive.

Farbenprächtige Gestirnformationen (die mit analogen Mitteln, unter Mitwirkung des Kubrick-erprobten Tüftlers Douglas Trumbull entstanden sind), Lavaströme, erstes brodelndes Leben. Ein Dinosaurier, der mit dem darwinistischen Gesetz bricht und gegenüber einem verletzten Artgenossen Gnade walten lässt. Schon hier weist Malick auf den ephemeren Charakter des Lebens hin und verankert seine Kleinfamilie in einem kosmischen Ganzen. Zugleich schafft er Unterschiede: Es geht um die Überwindung einer indifferenten Natur mit den genuinen Mitteln des Kinos.

Im familiären Miteinander sehen die Grenzen anders aus, aber durch die Bilder entsteht indirekt ein Zusammenhang. Wie sehr es Malick um Eindrücke geht, die stark genug sind, elementare Erfahrung zu tragen, zeigt etwa die Szene, in der der Mutter die Nachricht überbracht wird, dass einer der drei Söhne gestorben ist. Die Kamera schwebt hoch über ihr und lässt sie mit ihrem Leid noch kleiner erscheinen.

Doch Malick suhlt sich nie in solchen Augenblicken, sondern schneidet hart und sucht assoziative Verknüpfungen: Das Ertrinken eines Kindes im Schwimmbad konfrontiert die Brüder schon davor mit dem Tod und damit mit der Gewissheit, dass man nicht ewig geschützt ist. Die aus der Gesellschaft Gefallenen sind überall: ein Verbrecher (dem die Mutter Wasser reicht), ein humpelnder Mann mit Stock auf der Straße.

Malicks Kino glaubt in einem Maße an die Unschuld von Bildern, die in einer visuell übersäuerten Welt nicht mehr opportun erscheint. Sein Misstrauen gegenüber Dialogen ist legendär. In The Tree of Life kommen die Stimmen der Protagonisten fast ausschließlich aus dem Off, oft geflüstert, was dem Film, gemeinsam mit der eklektisch zusammengestellten klassischen Musik, noch stärker den Anschein einer Predigt gibt.

Fehlbare Götter

Doch die Götter in dieser Predigt bleiben durchaus fehlbar. Allen voran Brad Pitts allzu bestimmter Vater, der seinem Jungen das Mitgefühl austreiben will, um ihn für die Herausforderungen des Daseins zu stärken. Während er einen Strich auf dem Rasen zieht, um dem Sohn die Grenze zum nächsten Grundstück aufzuzeigen, ist es das mit der Mutter verbundene Geheimnis der Sexualität, das Jack in das nachbarschaftliche Schlafzimmer einsteigen und einen Slip stehlen lässt.

Es ist eine der betörendsten Szenen des Films, voller wildem Verlangen und doch schon ganz im Bewusstsein der Schuld, eine weitere Grenze überschritten zu haben. The Tree of Life führt an ebenjene Grenzen zurück, die uns alle angehen. (Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD, Printausgabe, 15. 6. 2011)