Sehr geehrte LeserInnen des Standards - haben Sie vielen Dank für die Kommentarlawine in Reaktion auf meinen Artikel "Obama und Osama: Brüder im Geiste der Gewalt"

All jene, die mir Antiamerikanismus unterstellen, lade ich herzlich zur Lektüre meines kürzlich beim Transcend Media Service erschienenen Leitartikels "America the Beautiful" ein. Es ist sehr wohl möglich, die US-Republik zu lieben und das US-Imperium zu verabscheuen. Im Übrigen ist diese Ansicht gemäß seriösen Umfragen auch in muslimischen Staaten die vorherrschende Meinung. Das ist eine genauso mögliche und verständliche Haltung, wie man Deutschland oder Österreich bzw. deutsche oder österreichische Kultur lieben und zugleich das Dritte Reich samt dessen Politik und Ideologie des Nazismus verabscheuen kann. Diese beiden Einstellungen schließen sich logisch mitnichten aus.

Es lohnt zudem die Differenzierung zwischen Al-Qaida und legitimen Formen des arabischen Widerstands möglichst gründlich anzugehen. Im sogenannten "Arab Spring" geht es wesentlich um 1: Emanzipation und politische wie ökonomische Partizipationsrechte der Jugend 2: Antiautokratie, 3: Antikleptokratie, 4: Antisexismus und nicht zuletzt 5: Anti-Neoliberalismus & Anti-Imperialismus. Angesichts der nun eintretenden US-gestützten, reaktiven, militärischen und politischen Absicherungen dürfte er jedoch wesentlich weniger Wirkung entfalten als möglich und wünschenswert gewesen wäre.

Um die innergesellschaftlichen Wechselwirkungen und durchaus historisch verorteten Triebfedern dieser Umwälzungen umfassend begreifen zu können, empfiehlt es sich, die Geschichte westlich-muslimischer Interaktion zusätzlich auch aus dem Blickwinkel muslimischer Historiographie zu betrachten. Es geht schlicht und ergreifend um einen Blickwinkelwechsel... oder anders gesagt: um Empathie als Denkansatz.

Empathie ist im Übrigen, und das sei an dieser Stelle mit Nachdruck erwähnt, etwas gänzlich anderes als Identifikation oder gar Sympathie. So habe ich, bei der Aufgabe, die Geschichtsschreibung aus muslimischer Sicht zu erfassen und meine Erkenntnisse aus dieser Untersuchung an Nicht-Muslime zu vermitteln, 27 massive Angriffen des "Westens" - inkl. Russland - auf muslimische Gemeinschaften und Gesellschaften zwischen 1830 und heute gezählt. Damit sollen die Übergriffe des osmanischen Reiches auf arabische Territorien keineswegs verharmlost werden. Aber es spielt unter den erwähnten Vorzeichen eine wichtige Rolle, dass diese Ungerechtigkeiten von Muslimen an Muslimen begangen wurden und, dass im Gegensatz zum gegenwärtigen Siegeszug des säkularen Westens, der Islam unter osmanischer Herrschaft nicht insgesamt in den Schatten gedrängt und nicht als zivilisatorische Stütze massiv diskreditiert wurde. Genau dies aber hat der Westen prinzipiell überall dort bewirkt, wo er mit dem Islam in Berührung kam.

Aus Sicht friedenswissenschaftlicher Heuristik lohnt sich zudem die grundsätzliche Frage nach den reflexiven Handlungsoptionen der Menschen in solchen Situationen. Wie hätten "wir" gehandelt, wenn die christliche Welt historisch etwa selbst auf der anderen, der unterlegenen Seite gestanden hätte? Wie hätte man dann über die Unvereinbarkeiten und Interessendivergenzen befunden? Wie hätte man sich dann verhalten? Welche Einstellungen, militant und hart oder aber konziliant und weich, hätte man dann für probat gehalten? Nehmen wir an, das osmanische Reich hätte 1683 Wien eingenommen und hätte von dort aus seiner Kultur auf allen Ebenen und in allen Bereichen Ausdruck verschafft, sich darüber hinaus durch geographische Expansion und "Pazifizierungs"-expeditionen gen Norden und Westen ausgebreitet, und hätte währenddessen das Christentum vor sich hergetrieben und die, zu dem Zeitpunkt in statu nascendi befindliche, Aufklärung und die damit einhergehende Intellektualität unterbunden.

Hätte man nicht ebenfalls berechtigten Widerstand geleistet und legitimerweise Elemente dieses identitätswahrenden Widerstands durch Aufnahme in die Geschichtsschreibung bis in die Gegenwart hineingetragen? Hätten sich dann nicht auch in unseren gegenwärtigen Gesellschaften radikale politische Bewegungen auf einem solchen Fundus entwickeln können? Hätten nicht ebenfalls extreme Bewegungen entstehen können, die sich programmatisch ganz entgegen den versöhnlichen und neutestamentarischen Aspekten der christlichen Werte orientiert hätten? Auch ganz ohne die eingangs gesetzten, hypothetischen Vorzeichen gab es genug reaktionäres Potential im Christentum, um derartige Bewegungen hervorzubringen. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang besonders der gnadenlose Umgang der Inquisition mit Agnostikern, Andersgläubigen, Ketzern und Verrätern der Kirche.

In den letzten zehn Jahren, seit dem 11. September 2001, hat sich der Westen in Afghanistan und in der muslimischen Welt programmatisch an "Töten, Töten, Töten" als Strategie gehalten. Die Beimischung ziviler und entwicklungspolitischer Verheißungen lindert diesen Eindruck nur geringfügig. Überall das Militär, die NATO oder neuerdings auch Sonder-killer-kommandos einzusetzen, ist im Bereich der Medizin durchaus vergleichbar mit dem mittelalterlichen Aderlass, welcher als Therapie für alle nur erdenklichen Symptome Anwendung fand. Theorie und Praxis der Friedensforschung sind in den letzten 50 Jahren sehr weit gekommen und bieten ein breites Spektrum an Instrumenten und Strategien zur lösungsorientierten Konfliktbearbeitung. Was wir in den internationalen Beziehungen zur Zeit erleben, ist Dezisionismus und militärpolitischer Aderlass als Allheilmittel für Konflikte, für die jedoch ein systematischer, interkultureller Dialog die angemessenere und notwendige Therapie wäre.

Letztlich ist dieses Schreiben, meine Reaktion auf Ihre zahlreichen Kommentare, als mein Plädoyer für ein Mehr an Empathie im interkulturellen Umgang miteinander zu verstehen. Es ist ein Plädoyer für ein Mehr an allparteiischem Denken und für ein Mehr an versöhnlicher Rationalität in der Suche nach Bearbeitungsmöglichkeiten und Lösungen für diese Konflikte. (Johan Galtung, derStandard.at, 27.5.2011)