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Scheiße ist Teil von uns selbst und wird, kaum ans Tageslicht gebracht, als widerwärtig und fremd empfunden.

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Foto: Buchcover/Nagel & Kimche

"Ich bin ja der Meinung, man könnte einen Scheißdreck auch darstellen", sinnierte einst Thomas Bernhard im Interview. "Der Vorhang geht auf, ein Scheißhaufen liegt auf der Bühne. Ein paar Fliegen kommen und setzen sich drauf. Und der Vorhang geht wieder zu." Exkremente sind ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Sie rufen Ekel hervor und verfügen gar über zerstörerisches Potenzial. Dabei "gründet die menschliche Kultur auf der Scheiße", weiß der Berliner Autor Florian Werner, "weil wir erst durch die Abgrenzung von der Scheiße wissen, was Kultur überhaupt ist".

Widerwärtiger Teil unseres Selbst

In seinem Buch "Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheiße" umkreist der Literaturwissenschafter, Texter und Musiker der Gruppe Fön auf 240 Seiten das Thema von allen Seiten - wie die Fliege den Sch...haufen. Aber da dieses Wort ja bekanntlich nicht ausgesprochen werden darf, versucht sich der Autor zuerst an einer begrifflichen Klärung: "Wovon wir reden, wenn wir von Scheiße reden". Sie ist das Alltäglichste der Welt, ist eine Grundbedingung des Lebens und gilt doch zugleich als schmutzige oder gar tödliche Substanz. Sie ist Teil von uns selbst und wird, kaum ans Tageslicht gebracht, als widerwärtig und fremd empfunden.

Der Verzehr von Exkrementen

Werner widmet sich der Frage, woher der Ekel kommt und warum in Scheiße ein so hohes Maß der Bedrohung vermutet wird. Naturwissenschaftliche Gründe können nicht die Ursache für den Abscheu vor dem Verzehr von Exkrementen sein, da zahlreiche Tierarten diesen praktizieren, ohne dabei Schaden zu nehmen.

Sind Krankheitserreger wie Cholera im Spiel, seien medizinische Bedenken angebracht, hält Werner fest, ansonsten gelte: "Ein Mensch, der täglich von seinem Morgenstuhl nascht, hätte vermutlich eine höhere Lebenserwartung als jemand, der allmorgendlich seinen Kaffee mit Schuss trinkt und im weiteren Verlauf des Tages eine Packung Zigaretten raucht." Weshalb sich der Autor den moralischen Dimensionen des Ekels zu wendet, der in einem enormen und tief in der Menschheitsgeschichte verwurzelten Ekel vor sich selbst mündet.

Phänomenologie der Scheiße

Eine Phänomenologie und Kulturgeschichte der Scheiße hat Werner zuwege gebracht, die so leichtfüßig daher kommt, dass man die Wissenschaftlichkeit seines Werkes kaum bemerkt. Dieses ist fundiert und vor allem transdisziplinär, indem es Biologie, Chemie, Physiologie, Psychologie, Geschichte, Politik, Linguistik, Ökonomie, Ökologie, Philosophie, Religion, Komik und die schönen Künste umfasst.

Renaissance des Analen

Inwieweit die Scheiße von der Wiege bis zur Bahre unser Verständnis von Gesundheit, Anstand und Humor prägt? Von Augustinus ("Zwischen Kot und Urin werden wir geboren"), bis Frank Zappa ("Ich habe nie auf irgendeine Bühne geschissen"), von Platon bis zum brasilianischen Exkrementalporno "Hungry Bitches" bewegt sich Werner durch Zeit und Raum. Er blättert die Rolle der "dunklen Materie" - der Begriff kommt übrigens aus der Astrophysik und steht für eine Art dunkler Un-Materie, die es braucht, um das Helle hell werden zu lassen - in 3000 Jahren Kulturgeschichte auf, um endgültig im Hier und Jetzt zu landen: Kinofilme und Bücher - von Borat bis Feuchtgebiete - widmen sich lustvoll den Exkrementen.

"Was macht ausgerechnet diese alltäglichste und allgemeinmenschlichste aller Substanzen derzeit zu einem solch bevorzugten Thema und Werkstoff in Kunst, Kino und Literatur?", überlegt der Autor und liefert einen Gedankenanstoß: Durch die Verdrängung des Analen aus dem Alltag entsteht eine Renaissance des Analen im Alltag. Werner: "In demselben Maße, in dem die tatsächlichen Exkremente aus unserem Leben verschwunden sind, so könnte man sagen, hat die industriell und medial erzeugte Scheiße zugenommen." (Eva Tinsobin, derStandard.at, 06.04.2011)