Als Folge der Atomkatastrophe in Japan hat EU-Energiekommissar Günther Oettinger einen Sondergipfel einberufen. Gleichzeitig wird Deutschland die AKW-Laufzeitverlängerung in den nächsten drei Monaten aussetzen, auch die Schweiz denkt nach. In anderen Ländern setzt man weiter auf die Kernenergie.

Ein STANDARD-Überblick über die Atomdebatte in den österreichischen Nachbarstaaten zum Durchklicken - entweder Sie verwenden die Navigation links oder sie klicken sich der Reihe nach unten durch. (STANDARD-Printausgabe, 15.03.2011)

Die Kühltürme des AKW im slowakischen Mochovce.

DEUTSCHLAND

  • Anzahl aktiver Atomreaktoren: 17
  • Anteil Atomstrom an Eigenproduktion: 26,1 Prozent
  • Nächstgelegenes AKW: Isar 1, 65 km

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Ein paar Tage des Nachdenkens hat sich die deutsche Regierung gegönnt. Am Montag aber vollzog Bundeskanzlerin Angela Merkel eine vielbeachtete atomare Kehrtwende: Die erst 2010 beschlossene Verlängerung der Laufzeiten der 17 deutschen Reaktoren um insgesamt zwölf Jahre wird in den nächsten drei Monaten ausgesetzt.

Während dieses Moratoriums wird es eine Überprüfung der deutschen Kernkraftwerke geben, deren Sicherheitssysteme werden laut Merkel "vorbehaltslos und umfassend" beleuchtet. Ein sofortiges Abschalten aller Meiler kommt für die deutsche Kanzlerin nicht infrage. Sie deutete jedoch bereits an, dass nicht alle AKWs den Check überstehen werden: "Die Lage nach dem Moratorium wird eine andere sein." Experten rechnen damit, dass die drei ältesten und am meisten kritisierten Anlagen (Biblis A / Hessen, Isar 1 / Bayern und Neckarwestheim 1 / Baden-Württemberg) schnell vom Netz genommen werden könnten. Die Reststrommengen würde man dann auf jüngere und sicherere Meiler verteilen.

Merkel war nach der Katastrophe in Japan enorm unter Druck geraten. Die Mehrheit der Deutschen ist ohnehin gegen die von ihr forcierte Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Am Wochenende hatte es spontane Demonstrationen gegen Atomkraft gegeben - zwischen Stuttgart und Neckarwestheim bildeten 60.000 Menschen eine 45 Kilometer lange Menschenkette, um gegen die schwarz-gelbe Atompolitik zu protestieren.

In Baden-Württemberg wird am 27. März ein neuer Landtag gewählt. Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) ist einer der vehementesten Verfechter von längeren Laufzeiten für die deutschen Atomkraftwerke. (Birgit Baumann aus Berlin, STANDARD-Printausgabe, 15.03.2011)

FRANKREICH

  • Anzahl aktiver Atomreaktoren: 58
  • Anteil Atomstrom an Eigenproduktion: 75,2 %
  • Nächstgelegenes AKW: Fessenheim, 165 km

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Im "Atomland" Frankreich hat nur wenige Tage vor den Regionalwahlen das japanische Erdbeben eine hitzige Atomdebatte ausgelöst. "Ist es nicht an der Zeit, die Alarmglocke zu läuten?", fragte der grüne EU-Abgeordnete Daniel-Kohn Bendit. Seine grüne Fraktionskollegin Cécile Duflot verlangte außerdem "eine wahrhaftige Energiedebatte und die Möglichkeit des Atomausstiegs per Referendum".

Eine solche Forderung wäre in Frankreich bisher kaum auf großes Echo gestoßen. Die Kernenergie gehörte bisher zum Stolz des Landes und ist traditionell viel weniger umstritten als etwa in Österreich oder Deutschland.

Noch am Sonntag hatte die konservative Regierung abgewiegelt: "Es handelt sich um einen schweren Unfall, aber nicht um eine Katastrophe", meinte Industrie- und Energieminister Eric Besson kategorisch. Am Montag musste er aber einräumen, die Lage sei "besorgniserregend" und "eine Katastrophe kann nicht ausgeschlossen" werden.

Viele Grüne fühlen sich dieser Tage an den Unfall in Tschernobyl erinnert: Damals erklärte die Atomsicherheitsbehörde zuerst allen Ernstes, die radioaktive Wolke habe an den Grenzen Frankreichs haltgemacht.

Die ehemalige Umweltministerin Corinne Lepage erklärte am Sonntag, ein größerer Unfall sei in Frankreich durchaus denkbar, da die älteren Reaktoren zum Teil in Überschwemmungs- oder sogar Erdbebenzonen lägen.

Eine Woche vor den Kantonalwahlen findet die Anti-AKW-Kritik nun Resonanz. Die Regierung, die eine Schlappe befürchtet, ging darauf am Montag ein: "Frankreich wird wachsam sein und aus den Vorgängen in Japan nützliche Lehren ziehen", meinte Premierminister François Fillon. (Stefan Brändle, STANDARD-Printausgabe, 15.03.2011)

TSCHECHIEN UND SLOWAKEI

  • Anzahl aktiver Atomreaktoren: 6 bzw. 4
  • Anteil Atomstrom: 33,8 % bzw. 53,5 %
  • AKW: Temelín, 55 km - Mochovce, 115 km

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Tschechien gehörte bisher mit der Slowakei zu jenen EU-Ländern, welche die Renaissance der Atomkraft in jüngster Zeit besonders forcieren wollten. Prag und Bratislava richten sogar zweimal im Jahr abwechselnd ein "Forum für Kernkraft" aus, welches laut Eigendefinition eine neue Diskussion über die Nutzung der Kernkraft in Europa anstoßen soll.

In beiden Ländern herrscht breiter Konsens in Bezug auf die Nutzung der Kernkraft. Von 2006 bis 2010, als die Grünen Teil der tschechischen Regierungskoalition waren, gab es zumindest ein Moratorium für den Ausbau der Kernkraft. Seitdem die Grünen sogar aus dem Parlament geflogen sind, gibt es in der tschechischen Politik keine relevante Kraft mehr, welche auf eine Zukunft ohne Atomstrom setzen würde.

Atomstrom sei billig und zudem umweltverträglich, klingt es unisono aus allen politischen Richtungen. Derzeit läuft ein Genehmigungsverfahren, das zum Bau von zwei weiteren Reaktorblöcken in Temelín führen könnte.

Die Chefin der Staatlichen Behörde für atomare Sicherheit, Dana Drabova, erklärte gegenüber dem tschechischen Rundfunk, dass bei den beiden AKWs Dukovany und Temelín keine vergleichbaren Probleme wie in Japan drohen würden. Schon die Standorte, so Drabova, wurden seinerzeit so gewählt, dass sie in erdbebensicheren Gebieten gebaut wurden.

Ihr Pendant in Bratislava, Karol Janko, äußerte sich in den slowakischen Medien ähnlich. Dennoch befindet sich zum Beispiel das slowakische AKW Mochovce in einem Gebiet, in dem seismische Aktivitäten zumindest zu verzeichnen sind.

So wurden Ende Jänner in der Nähe von Mochovce Erdstöße verzeichnet, die auf ein leichtes Erdbeben zurückgingen. Das Epizentrum lag zwar im benachbarten Ungarn, jedoch nur wenige Kilometer entfernt. (Robert Schuster aus Prag, STANDARD-Printausgabe, 15.03.2011)

ITALIEN

  • Anzahl aktiver Atomreaktoren: keine, 4 bis 10 in Planung
  • Mittelfristig 20 Prozent Atomstom-Anteil geplant
  • Nächstgelegenes geplantes AKW: Chioggia, 160 km

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Die Anti-AKW-Bewegung in Italien hat durch die Unfälle in Japan neuen Schwung erhalten. So forderte Oppositionsführer Pierluigi Bersani eine Trendwende in der italienischen Energiepolitik. Bekanntlich hat Regierungschef Silvio Berlusconi nach seiner Wiederwahl 2008 trotz eines gegenteiligen Volksentscheides den Wiedereinstieg in die Atomenergie beschlossen. Italien war nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl 1986 aus der Atomenergieproduktion ausgestiegen. Drei Kraftwerke wurden abgeschaltet, ein vierter Reaktor ging nicht mehr ans Netz. Berlusconi will noch in dieser Legislaturperiode mit dem Bau von vier Atomkraftwerken beginnen, mittelfristig sollen bis zu zehn Reaktoren gut ein Fünftel des Energiebedarfs decken.

Bisher fehlten noch zahlreiche Rechtsgrundlagen, die Konzessionierung erfolgte dennoch zum Teil. Auch die diffizile Standortproblematik ist noch nicht gelöst, denn viele Gemeinden und Regionen weigern sich, ein AKW auf ihrem Territorium betreiben zu lassen, allen Jobinitiativen und Versprechungen der Regierung zum Trotz. Selbst Anhänger der Atomenergie zweifeln, ob Berlusconi seinen Plan zeitgerecht durchführen wird können. Inzwischen werden nicht nur aus der Opposition, sondern auch aus dem Regierungslager, vor allem bei der Lega Nord, kritische Stimmen laut.

Italien muss seine Energiepolitik nicht zuletzt wegen der Libyenkrise umkrempeln: Elf Prozent des Gas- und ein Drittel des Erdölbedarfs wurden bisher mit Importen aus Libyen abgedeckt. Die Gaseinfuhren wurden vorerst komplett, die Erdölimporte zu zwei Drittel gestoppt. (Thesy Kness-Bastaroli aus Mailand, STANDARD-Printausgabe, 15.03.2011)

UNGARN UND SLOWENIEN

  • Anzahl aktiver Atomreaktoren: 4 bzw. 1
  • Anteil Atomstrom: 43 % bzw. 37,9 %
  • AKW: Paks, 205 km - Krsko, 80 km

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Nach den russisch-ukrainischen Gaskonflikten der vergangenen Jahre forciert Ungarn nun den Ausbau der Atomkraft, ohne aber - nicht zuletzt wegen der Wirtschaftskrise - die Finanzierungsfrage zur Gänze geklärt zu haben. Bisher liefert nur der Reaktor in Paks Atomstrom aus eigener Produktion.

Hauptaspekt der Anti-Atom-Proteste sind traditionell die Pläne für Uran-Transporte nach Russland. Im Oktober 2008 wurde in Bataapati ein Lager für schwach- und mittelradioaktiven Abfall eröffnet. Ein Endlager ist ab 2047 bei Boda in den Mecsek-Bergen geplant.

Südlich der Grenze zur Steiermark liegt in einem Erdbebengebiet das slowenische AKW Krsko, hier kam es zuletzt 2008 zu einem Zwischenfall. AKW-Manager Janez Krajnc versuchte in den vergangenen Tagen die Öffentlichkeit zu beruhigen: So starke Erdbeben wie in Japan seien nicht zu erwarten, man sei bestens gerüstet. Eine Expertise der Wiener Umwelt-Anwaltschaft fordert trotz erfolgter Nachrüstung in Krsko eine weitere Untersuchung der Erdbebensicherheit der Anlage.

Die slowenische Regierung will nach einer Volksbefragung einen zweiten Reaktorblock bauen. Die Regierung war bisher zuversichtlich, denn traditionell ist die Mehrheit der Slowenen für eine Fortführung der Atomenergie im eigenen Land. In Österreich gibt es hingegen Bedenken gegen den Ausbau von Krsko, weshalb die Bundesregierung wiederholt zur Intervention in Ljubljana aufgefordert wurde. (Gianluca Wallisch, STANDARD-Printausgabe, 15.03.2011)

SCHWEIZ

  • Anzahl aktiver Atomreaktoren: 5
  • Anteil Atomstrom an Eigenproduktion: 39,5 %
  • Nächstgelegenes AKW: Beznau, 112 km

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Die Schweizer Behörden haben am Montag die Pläne für AKW-Neubauten vorerst auf Eis gelegt. Zudem kündigte Umwelt- und Infrastrukturministerin Doris Leuthard eine Sicherheitsüberprüfung bei den vier AKWs an.

Die Ministerin lässt auch "die Ursachen des Unfalls in Japan genau analysieren und daraus allfällige schärfere Sicherheitsstandards ableiten, insbesondere Fragen betreffend der Erdbebensicherheit und der Kühlung".

Die politische Debatte wird jetzt neu angeheizt. Ein Zeitungskommentator schrieb, Fuku- shima sei für die Atomenergie, was Lakehurst für den Zeppelinbau war: das Fanal des Endes einer zu gefährlichen Technologie.

Die Schweizer Energiewirtschaft plante bisher den Bau von zwei bis drei neuen AKWs als Ersatz für die bestehenden Meiler, die in den nächsten zehn bis 15 Jahren abgestellt werden müssen. Im Kanton Bern hatte das Volk erst vor einem Monat mit knappen 51 Prozent Ja gesagt zum Neubau des AKWa Mühleberg. Heute wäre das Ergebnis, da sind sich Beobachter einig, zweifellos ein Nein. Auch die anderen AKW-Neubaupläne dürften es nun schwerer haben.

Zwar sagte Urs Gasche vom Berner Stromkonzern BKW, man halte an dem Neubauprojekt fest. Der Planungsstopp sei aber verständlich. Atomkraftgegner Jürg Burri von der Allianz "Nein zu neuen AKW" forderte hingegen, "dass die Regierung ihre "Haltung nun neu überdenkt und endlich eine Strompolitik aufzeigt, die ohne diese Risikotechnologie auskommt". (Klaus Bonanomi aus Bern, STANDARD-Printausgabe, 15.03.2011)