Zwei einsame Herzen, die sich doch nicht erkennen: Mary (Lesley Manville) und Ken (Peter Wight) in Mike Leighs "Another Year".

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Mike Leigh (67) britischer Dramatiker und Filmemacher. Zu seinen preisgekrönten Filmen gehören "Naked" (1993), "Secrets & Lies" (1996) oder "Vera Drake" (2004). Ein Projekt über den Maler William Turner ist in Vorbereitung.

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Isabella Reicher sprach mit ihm über Gefühlsdilemmata, Schauspielpraktiken und Theaterregen.

Wien - Ein gewöhnliches Jahr im Leben eines schon etwas gesetzteren Londoner Ehepaares: Gerri (Ruth Sheen) und Tom (Jim Broadbent) gehen ihrer Arbeit nach, bewirtschaften ihren Schrebergarten, sorgen sich um ihren erwachsenen, noch unverheirateten Sohn und pflegen alte Freundschaften. Was fast zu harmonisch klingt, hat in Mike Leighs jüngstem Kinofilm, der ambivalenten Gesellschaftsstudie Another Year, auch eine sehr konfliktreiche Seite. Vor allem Gerris Arbeitskollegin und Freundin Mary (Lesley Manville) fällt mit ihren größer werdenden Problemen allmählich aus dem innersten Kreis.

Nicht zuletzt am Umgang mit ihr entzündet sich der Eindruck, dass Leigh eine Gesellschaft porträtiert, in der selbst persönliche Beziehungen dem Diktat von Effizienz und Reibungslosigkeit unterliegen und individuelles Unglück allenfalls von professionellen Lebensberatern, wie Gerri eine ist, verwaltet wird.

STANDARD: Was hat den Anstoß für "Another Year" gegeben?

Leigh: Das ist schwer zu beantworten. Mein ganzes Werk kreist um die Frage, wie wir heute leben, wie wir zurechtkommen. Nach Happy-Go-Lucky, der ein jugendlicher Film ist - die Hauptfigur Poppy ist in ihren Dreißigern -, wollte ich einen Film machen, der aus der Perspektive derer, die alt werden, auf das Leben blickt. Wir, die wir in den 1940ern geboren wurden - das hat den Film sicher geprägt.

STANDARD: Würden Sie zustimmen, dass man ihn als eine pessimistischere Version von "Happy-Go-Lucky" sehen kann?

Leigh: Interessant, dass Sie das pessimistisch nennen. Ich würde in aller Bescheidenheit anmerken, dass es dafür zu komplex ist. Another Year wirft Fragen nach den emotionalen Dilemmata auf: Zusammensein und Einsamkeit, Wärme und Kälte, Freude und Schmerz. Es gibt viele schmerzvolle Momente, aber den Film pessimistisch zu nennen finde ich unfair.

STANDARD: Ich beziehe das vor allem auf die Figur der Mary, deren Geschichte im Gegensatz zu jener Poppys pessimistischer scheint.

Leigh: Poppy wird nie eine Mary werden! Sorry, aber das akzeptiere ich nicht, da müssen Sie sich mehr anstrengen! In Poppys Persönlichkeit oder Erlebnissen ist nichts angelegt, das darauf hindeutet, dass sie jemals so werden könnte. Poppy ist eine befreite, postfeministische Person. Mary ist präfeministisch. Ein großer Teil ihres Problems ist die Vorstellung, dass Frauen für Männer existieren, begehrenswert sein müssen, ewig jung. Sie hätte schon als junge Frau ihr Leben nicht mit Freundinnen geteilt, sondern wäre ausschließlich an Männern interessiert gewesen. Männern, die ihr nicht guttun.

STANDARD: Entwerfen Sie die Vorleben Ihrer Figuren beim Proben?

Leigh: Ja, das ist ein kollaborativer Prozess. Ich bringe einiges mit, aber wir spinnen das dann gemeinsam weiter. Es soll ja organisch wirken. Wir besprechen das ausführlich. Aber wir sind auch Handwerker, und es gibt ausgeklügelte praktische Schauspielarbeit, die ich nicht preisgeben darf.

STANDARD: Abgesehen von Ihrer Filmarbeit kehren Sie demnächst ans Hampstead Theatre zurück und inszenieren ein eigenes Stück.

Leigh: Ja, ich mache im März eine Wiederaufführung von Ecstasy, das 1979 dort Premiere hatte. Und im September habe ich am National Theatre eine Uraufführung.

STANDARD: Hat das mit den aktuellen Bedingungen beim Film zu tun?

Leigh: Nein. Meine erste Leidenschaft ist das Kino, aber ich bin gern am Theater. Ich habe beispielsweise völlige Freiheit, am National Theatre sagt man mir, ich kann tun, was ich will. Ich mache es um seiner selbst willen, nicht mangels anderer Möglichkeiten. Aber nichts wird je interessanter sein, als Filme zu machen.

STANDARD: Was sagen Sie zur gegenwärtigen Mode, Filme fürs Theater zu adaptieren?

Leigh: Ich habe eine sehr puristische Einstellung - man sollte nicht adaptieren, sondern sich selbst etwas ausdenken. Und wenn man filmisch fühlt und denkt, dann erschafft man etwas, das ausschließlich ein Film ist. Natürlich gibt es Ausnahmen, ein Werk kann einen so inspirieren, dass die Adaption zwingend ist - denken Sie an Jules et Jim, der ist sogar eindrucksvoller als der Roman. Was mich ermüdet, ist eine denkfaule Art des Filmemachens.

STANDARD: Unterscheidet sich das Schreiben für Bühne und Kino?

Leigh: Ja. Denken Sie an Another Year, die Figuren sind beispielsweise den Elementen ausgesetzt, müssen vorm Regen flüchten. Für die Bühne würde ich mir so etwas nie ausdenken. Natürlich kann man es auch dort regnen lassen, aber meine Dramen spielen immer in Innenräumen. Ich hasse Szenenwechsel. Ich mag nicht im Dunkeln sitzen, während Möbel weggetragen werden. Ich bevorzuge die lang andauernde Handlung. Man kann auch Diskussionen auf der Bühne in einer Länge führen, die ich im Film nicht gut finden würde. Eigentlich denke ich, wenn ich an einem Stück arbeite, nicht, dass das jetzt kein Film ist. Man stellt sich immer dem, womit man es gerade zu tun hat. (Isabella Reicher, 25. Jänner 2011)