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"Zu meiner Zeit gab es noch klare Gegner, von den Nazis bis zu Stalin": Der 1917 geborene Stéphane Hessel kämpft mit seiner Streitschrift gegen Gleichgültigkeit und Resignation.

Foto: AP/Francois Mori

Die Wut kleidet sich bisweilen in Nadelstreifen. Elegant und liebenswürdig empfängt der Autor von Empört euch! in seiner Wohnung im 14. Stadtbezirk von Paris. In fast akzentfreiem Deutsch. "Ich bin in Berlin geboren und in Deutschland zur Schule gegangen", entschuldigt sich Stéphane Hessel fast dafür.

Der Sohn eines jüdischen Schriftstellers hatte zu den ersten französischen Résistance-Kämpfern gegen die Nazis gehört, bevor ihn die Gestapo verhaftete, folterte und ins KZ Buchenwald steckte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Hessel Uno-Botschafter Frankreichs; heute ist er der letzte noch lebende Verfasser der allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948. Eine moralische Instanz. Und dieser feine, kultivierte Mann, der Chagall und Picasso kannte und Gedichtesammlungen herausgibt, soll ein Pamphlet namens Empört euch! verfasst haben, das derzeit über Frankreich hinaus Furore macht?

"Ich war selbst am meisten überrascht über den Erfolg", antwortet Hessel, laut dem seit letzten Oktober 500.000 Exemplare von Indignez-vous! verkauft und Übersetzungen von Asien bis in die USA geplant sind. Dabei umfasst das Werk nur zwei Dutzend Seiten Text. An die Jugend gewandt, heißt es darin: "Wir, Veteranen der Widerstandsbewegung, sagen euch: Nehmt das Steuer in die Hand, empört euch!"

Nicht mehr das Allgemeininteresse, sondern das Finanzsystem diktiere den Lauf der Welt, schreibt der Sartre- und Hegel-Bewunderer. Nach dem Krieg habe der Résistance-Anführer Charles de Gaulle die Banken verstaatlicht, um die Sozialversicherung zu finanzieren; heute folge die soziale Demokratie hingegen den Vorgaben des Kapitals.

"Die Macht des Geldes war noch nie so groß, anmaßend und egoistisch", heißt es in dem Büchlein; weltweit werde die Spanne zwischen Arm und Reich immer größer.

Recht des Stärkeren

Gewiss seien seit der Nachkriegszeit auch Erfolge zu verzeichnen, räumt der Ex-Diplomat ein: die Entkolonisierung, das Ende der Apartheid und der Fall der Berliner Mauer. Einzelne Erdteile wie Afrika oder Südamerika machten demokratische Fortschritte; global finde aber seit der Jahrtausendwende eine rasante Regression statt. Es stehe zunehmend schlecht um Menschenrechte wie die Pressefreiheit oder Umweltanliegen, schreibt Hessel; nicht mehr das Völkerrecht, sondern das Recht des Stärkeren dominierten, wie sich im Irakkrieg oder den "Kriegsverbrechen" Israels beim Gaza-Angriff gezeigt habe.

Dieser sprachgewaltige Rundumschlag gegen die Mächtigen, dieser entrüstete Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit, findet ohne jeden Werbeaufwand reißenden Absatz. In Pariser Buchhandlungen ist die Schrift längst ausverkauft; der Nachdruck soll mehrere hunderttausend Exemplare umfassen. Vereinzelt setzt es auch Kritik ab: Das Büchlein attackiere einseitig Israel, nicht aber die Menschenrechtsverletzungen im Iran oder in Burma, meint etwa der französische Literaturblogger Pierre Assouline.

Anlass zur Empörung

Hessel erwidert dazu nur, dass ihn mit den Juden "ein Gefühl des Zusammenseins" verbinde; das hindere ihn aber nicht, seine Wut auf die Regierung Netanjahu auszudrücken. Für die Oppositionelle Aung San Suu Kyi habe er sich persönlich in Rangun eingesetzt. Überall auf der Welt kämpfe er für die Umsetzung der Uno-Menschenrechtsdeklaration. Le Monde hält Hessel auch vor, er klage nur und biete keine Rezepte.

"Soll ich etwa zur Revolution aufrufen?", erwidert der Angesprochene, der daran erinnert, dass er 1917 auf die Welt gekommen sei, also im Jahr der russischen Revolution. "Gewalt bringt nichts. Wir müssen die demokratischen Werte unterstützen und ihnen zum Durchbruch verhelfen." Gefragt sei ein Engagement in Nichtregierungsorganisationen wie Attac oder in politischen Parteien.

Nur solche Formationen hätten die Mittel, die heutigen Machtstrukturen und Interdependenzen zu durchschauen. "Zu meiner Zeit gab es noch klare Gegner, von den Nazis bis zu Stalin", meint Hessel.

Heute lägen die Dinge komplizierter, doch gebe es genug konkreten Anlass zur Empörung, wie etwa soziale und Einwanderfragen. "Wir sollten nicht als gleichgültige Konsumenten, sondern als Bürger handeln. Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit. Dagegen ist ein wenig Empörung nur heilsam." (Stefan Brändle, DER STANDARD - Printausgabe, 11. jänner 2011)