Videos, die das offizielle Bild Atatürks verunglimpfen, führten in der Türkei zum Youtube-Verbot.

Montage: Beigelbeck/Standard

Ein hellblauer Bildschirm mit einer einzeiligen Erklärung der Telekommunikationsbehörde ist alles, was Internetbenutzer in der Türkei zu sehen bekommen, wenn sie zum Beispiel auf die weltweit größte Videowebseite Youtube klicken. Denn die türkische Regierung lässt vieles, was im Internet kursiert und dem verfassungsrechtlich garantierten "Frieden und Wohlergehen der Familie" schaden könnte, schnell verbieten. 7223 blockierte Webseiten zählte der Verein der Internetbenutzer (IYAD) dieser Tage.

Staatschef kritisiert YouTube-Verbot

Nun hat sich Staatschef Abdullah Gül selbst zu Wort gemeldet. Zweieinhalb Jahre nach dem Verbot von Youtube stellte er auf einem Symposium in Istanbul eine kritische Frage: "Ist denen, die diese Webseite verboten haben, bewusst, mit welchen Ländern sie die Türkei zusammenbringen?" Der Präsident dachte natürlich an China oder Nordkorea und hatte kaum gesprochen, als ein türkischer Richter bereits die Schließung einer anderen populären Videoseite anordnete: Vimeo.com bekam den hellblauen Bildschirm, weil ein Politiker der oppositionellen CHP ein kompromittierendes Video verhindern wollte. Die Republikanische Volkspartei ist in dieser Frage sensibel, nachdem ihr Generalsekretär Deniz Baykal wegen einer angeblichen Bettszene im vergangenen Frühjahr zurücktreten musste. Regierung wie Opposition ziehen in der Türkei an einem Strang, wenn es um die Kontrolle des Internets geht. Özgür Uçkan, Sprecher der Allgemeinen Plattform gegen Internetzensur und Dozent an der BilgiUniversität in Istanbul, nennt es den Reflex des "zentralistischen Staats": "Die Zensur ist für alle politischen Akteure - für die Parteien, das Militär, die Justiz - ein nützliches Instrument."

Sperren werden umgangen

Im Mai 2005, noch bevor die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei begannen, verabschiedete das Parlament mit den Stimmen aller Parteien das berüchtigte Gesetz 5651. Es ist die Grundlage für die Blockierung von IP-Adressen und Web-Domänen. Pornoseiten sind seither ebenso verboten wie manche der populären sozialen Networkseiten. Zeitweise fiel der Vorhang über myspace.com wegen angeblicher urheberrechtlicher Probleme. Youtube wurde ein Video zum Verhängnis, das Staatsgründer Kemal Atatürk diffamierte.

Jungen Türken scheinen die Verbote um so lächerlicher, da sie durch die Verwendung von Proxy-Webseiten umgangen werden können. "Es ist eine absurde Situation. Verbotene Internetseiten anzusehen ist kein Verstoß gegen türkische Gesetze", stellt Uçkan fest. Doch die Regierung gehe ungeachtet der EU-Kritik immer rigoroser vor und sei dabei, eine "chinesische Mauer" um die Internetbenutzer im Land zu bauen.

Laut einem Untersuchungsbericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) blockiert der türkische Staat im Durchschnitt jeden Monat 180 neue Webseiten. Für den Staatschef selbst passen diese Verbote nicht in die "junge normale Welt" der Türkei. Bei einer Diskussion an der Columbia-Universität in New York umschrieb Gül das Problem der Internetzensur in der Türkei kürzlich als eine Frage von "steuerrechtlichen Gesetzen"; Regierung und Parlament sollten diese Gesetze überarbeiten. Zumindest was die Videowebseite vimeo.com angeht, wurde der Präsident erhört. Die Sperre wurde zu Wochenbeginn aufgehoben. (Markus Bernath aus Istanbul/DER STANDARD Printausgabe, 6. Oktober 2010)

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