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Die Armut ist auf den Straßen so groß, dass HIV sogar Träume weckt

Foto: APA/EPA/Vinai Dithajohn

Es war ein guter Tag für Nedu. Zumindest behauptet er das. Was er tatsächlich fühlte, als er erfuhr, dass sein AIDS-Test positiv ausgefallen war, weiß nur er. "Das ist gut. Dann bekomme ich vielleicht sogar eine Wohnung", sagte Nedu damals. Und von einer eigenen Wohnung träumte er schon lange, denn Nedu ist eines von hunderten Straßenkindern in Rumäniens Hauptstadt Bukarest. Wie viele Jahre er schon auf der Straße lebte? Er hat sie nicht gezählt, aber lange genug, um eigene vier Wände zum unerreichbaren Traum werden zu lassen.

Mit seiner HIV-Infektion schien ihm dieser Traum plötzlich zum Greifen nahe: Er hoffte auf staatliche Unterstützung. Auf der Straße ging das Gerücht um, den Erkrankten würde geholfen werden. Ein positives Testergebnis würde das Ende der Misere bedeuten: Das Ende von Winternächten im Kanal oder im Freien, zugedeckt mit streunenden Hunden. Ein Ende von Hunger, Gewalt und Drogen. Mit einem Mal würde sich das Blatt zum Positiven wenden - und die Krankheit sei gar nicht so schlimm, hieß es. Man könne lange mit ihr leben. Ein Straßenleben lang.

Keine Lust auf Safer Sex

Die konkrete Zahl der HIV-Infektionen in Rumänien auszumachen, ist schwierig. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums haben sich zwischen 1985 und Ende des vergangenen Jahres 16.162 mit dem Virus infiziert, mehr als die Hälfte, 9.810, waren Kinder unter 14 Jahren. Im vergangenen Jahr wurden in 8.551 HIV-Patienten in rumänischen Krankenhäusern behandelt. Der Grund für die hohe Infektionsrate unter Kindern liegt in der Geschichte des Landes: Verhütung und Safer Sex sind nach wie vor unpopulär.

Ein Erbe Ceauşescus

Unter der Diktatur des kommunistischen Staatspräsidenten Nicolae Ceauşescu stand auf Abtreibung mehre Jahre Gefängnis. Sein erklärtes Ziel war es, die Zahl der rumänischen Bevölkerung in die Höhe zu treiben. Die Folge: Die von der Armee geführten Kinderheime waren heillos überfüllt, denn Verhütungsmittel waren so gut wie nicht zu bekommen. Nach dem Sturz Ceauşescus im Dezember 1989 wurden die Heime aufgelassen und tausende Kinder saßen plötzlich auf der Straße.

Ein kurzes Straßenleben

Die Zahl der HIV-Infektionen unter Straßenkindern zu beziffern, ist schier unmöglich, denn offiziell ist das Thema Straßenkinder in Rumänien erledigt: Fragt man die Behörden, es gibt sie schlichtweg nicht mehr. Dennoch sind sie in jeder größeren Stadt des Landes zu finden: Die Kinder und Jugendliche, die auf Rumäniens Straßen, in Abbruchhäusern und Kanälen leben und so gerne gesehen sind, wie Ratten und streunende Hunde.

Sie, die ihren Lebensunterhalt mit Betteln, Stehlen und Prostitution verdienen - oft selbst noch Kinder, aber schon Eltern - machen sich wenig Gedanken über eine Krankheit, die unbehandelt erst nach Jahren den Tod bedeutet. Ihnen ist der Tod ständiger Begleiter. Während im übersatten Westen das Leben in Dekaden unterteilt wird, schlägt hier der Puls schneller. Sie haben keine Zeit. Heute zählt, vielleicht auch noch morgen. Aber danach die Sintflut.

Ausgeträumt

Nedu sieht nicht gut aus. Beinahe drei Jahre sind vergangen. Er ist blass, die Wangen sind hohl. Aber er lacht von einem Ohr zum anderen. Gut gehe es ihm, sagt er. Seit sechs Monaten sitzt der 23-Jährige in Jilava ein - Bukarests berüchtigstem Gefängnis - weil er Autos aufgebrochen hat.

Fast wie im Hotel sei es hier, sagt Nedu durch die Glasscheibe. Er verbüßt seine Strafe auf der Krankenstation der Strafanstalt - verglichen mit den Bedingungen mit denen seine Mithäftlinge im normalen Vollzug zu kämpfen haben, hat es Nedu tatsächlich gut erwischt - dank seiner Krankheit . "Ein Bett, dreimal täglich etwas zu essen und ein Fernsehraum. Super." Für Nedu scheint sich fast ein Wunsch erfüllt zu haben.

Fünfeinhalb Jahre hat er noch. Theoretisch. Nedu verweigert eine HIV-Behandlung. Auf die Frage warum, antwortet er: "So. Ich habe genug." Sein Straßenleben wird hier vermutlich ein Ende finden. Unwahrscheinlich, dass er seinen Haftentlassungstermin erlebt. (bock, derStandard.at, 21.7.2010)