Sexuelles Verlangen entsteht bei Männern über optische Reize, Frauen hingegen entwickeln Lust vor allem im Kopf, in Fantasien. Einer kleinen Gruppe von Frauen bleibt diese Fähigkeit, Fantasie zu entwickeln, versagt. Sie leiden an sexueller Lustlosigkeit - trotz stabiler Beziehung und gefestigter Persönlichkeit. Der Pharmahersteller Boehringer-Ingelheim veröffentlichte vor zwei Wochen die Ergebnisse einer Phase-III-Studie, in der der Effekt eines neuen Wirkstoffes an mehreren Tausend Frauen gegenüber wirkungslosem Placebo getestet wurde. Flibanserin, so der Name, ist ein Lustmacher, der im Gehirn wirkt. Denn tatsächlich scheint die sogenannte Hyperactive Sexual Desire Disorder (HSDD) auf ein Ungleichgewicht im Hirnstoffwechsel zurückzuführen zu sein: Die Emotionen, die für rauschhaften Zustand verantwortlich sind, sind unterdrückt, der Verstand dafür überaktiviert - das haben auch Forscher der Universität Stanford herausgefunden und kürzlich im Fachmagazin Neuro-science publiziert.

Was passiert genau beim Sex? Der Kopf schaltet ab, das Hormon Oxytocin lässt Hemmungen fallen. Das limbische System, Sitz der Emotionen, wird im Belohnungsbotenstoff Dopamin gebadet, Serotonin sorgt für das Glücksgefühl, und Noradrenalin kümmert sich um die Erregung. Schon geringfügige Änderungen in diesem sensiblen Zusammenspiel zwischen Dopamin und Serotonin können Folgen haben und aus Verlangen und guter Stimmung sexuelle Unlust und sogar Ekel entstehen lassen.

Schlüsselstellen

Wissenschafter haben beobachtet, dass depressive Menschen, deren Serotoninhaushalt gestört ist, häufig auch an sexueller Lustlosigkeit leiden. Dabei unterscheiden sich Frauen und Männer in ihrem Serotonin-Haushalt voneinander, konnten Forscher des schwedischen Karolinska-Instituts beweisen. Sie konnten darüber hinaus zeigen, dass sich der Serotoninspiegel von Frauen, die vor ihrer Menstruation unter schweren körperlichen und seelischen Belastungen leiden, nur ungenügend ihren natürlichen hormonellen Schwankungen anpassen kann.

Flibanserin, der neue Wirkstoff, dockt an die Bindungsstellen des Serotonins an. "Es bindet an zwei Arten von Serotonin-Rezeptoren. Auf den einen hat es einen stimulierenden, auf den anderen einen hemmenden Effekt, das stellt die Balance wieder her", sagt Matthias Fuchs, Senior Medical Advisor bei Boehringer-Ingelheim. Wie es genau wirkt, wissen die Forscher nicht, doch die Frauen, die das Arzneimittel bekamen, zeigten sich überwiegend zufrieden: 24 Wochen lang nahmen mehr als 2000 Frauen Flibanserin oder ein Placebo ein. In ein Tagebuch protokollierten sie täglich, wie oft sie Sex hatten - gleich, ob mit Partner oder ohne - , wie befriedigt sie sich fühlten und wie sich ihre Erregung und ihr Verlangen veränderte. "Die Ergebnisse der Phase-III-Studie zeigen eine statistisch signifikante Steigerung des sexuellen Wohlbehagens sowie eine Verringerung des Leidensdrucks", so Fuchs.

Ob das Mittel aber einen ähnlich Erfolg haben wird wie Viagra für Männer, bleibt fraglich. Wenn auch die Zahl der Frauen, die an sexuellen Störungen leidet, zwischen einem Drittel bis 40 Prozent variiert, leidet nur eine kleine Gruppe von etwa zehn Prozent tatsächlich an HSDD. Partnerschaftliche Probleme kann ein Medikament nicht lösen. Eines hat Flibanserin jedoch mit Viagra gemein: Sein stimulierender Effekt wurde zufällig entdeckt: Boehringer-Ingelheim arbeitete an einem neuen Antidepressivum. Flibanserin konnte den Trübsinn nicht ausreichend bekämpfen, dafür erfreuten sich Frauen an neuer Lust. (eg, DER STANDARD, Printausgabe, 07.12.2009)