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Seit der Heimkehr aus dem Lager ist die schlaflose Nacht ein Koffer aus schwarzer Haut. Und dieser Koffer ist in meiner Stirn. Zurück, aber nie mehr nach Hause: Herta Müller.

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Wie das Inhumane erzählen, das Grauen der Lager? Humanisiert nicht jegliche Schilderung das für eine Menschlichkeit Unvorstellbare? Wie an entsetzlichste Menschenverachtung erinnern? Die Fragen fanden - sowohl in Bezug auf das System Auschwitz als auch auf das System Gulag - seit 1945 verschiedene Antworten, insbesondere mittels der Sprachkunst von Lévi, Amery, Kertesz, Klüger... Die große Schriftstellerin Herta Müller, die aus Siebenbürgen stammt, fügt nun der literarischen Gestaltung, der Erzählung vom Verbrauch des Menschen, eine bislang nicht nur hierzulande kaum beachtete Geschichte hinzu, und dies adäquat, in Form eines höchst interessanten, poetisch imposanten Romans.

Nachdem die Rote Armee 1944 in Rumänien die faschistische Diktatur besiegt hatte, wurden die dort lebenden Deutschen kollektiv zur "Reparation" der Kriegsschäden in der Sowjetunion gezwungen. "Alle Männer und Frauen im Alter zwischen 17 und 45 Jahren wurden zur Zwangsarbeit in sowjetische Arbeitslager deportiert" , ruft Herta Müller im Nachwort ihres atemberaubenden Romans Atemschaukel in Erinnerung und fügt Persönliches hinzu: "Auch meine Mutter war fünf Jahre im Arbeitslager."

Davon hatte Müller, die von der Securitate verfolgt wurde und 1987 nach Berlin ging, in verstohlenen Gesprächen ihrer Kindheit erfahren - im kommunistischen Rumänien war das Thema tabu. Vor einigen Jahren begann sie, einschlägige Erinnerungen aufzuzeichnen, auch jene von Oskar Pastior, der ebenfalls deportiert worden war. Mit dem Büchner-Preis-Träger wollte sie darüber ein Buch schreiben; Pastiors plötzlicher Tod 2006 ließ Herta Müller ein Jahr lang innehalten, bevor sie sich allein ans Werk machte.

Der Roman schildert Zwangsverschickung, Zwangsarbeit, Anstrengung bis zum Umfallen aus der Sicht des jungen Leopold Auberg aus Hermannstadt, der sich an die Worte seiner Großmutter klammert: "Ich weiß, du kommst wieder." Da er nach 60 Jahren über die fünf Jahre Lager erzählt, weiß man auch in der Lektüre, dass er wieder zurückkommt - und doch nie mehr "nach Hause" . Er hält sich an Wörter, die sowohl verdecken (bei seinen verbotenen homosexuellen Treffen vor und nach der Deportation gebraucht er Decknamen) als auch in die Imagination, in die Erhöhung der bodenlosen Erniedrigung flüchten helfen können.

Zwischen Himmel und Erde

Entsprechend und konsequent ist Herta Müllers literarisches Verfahren, verschiedene Ebenen zwischen Erde und Himmel anzusprechen, vom konkret Furchtbaren bis zu metaphorischen Erhebungen. So heißt es im ersten Kapitel Vom Kofferpacken: "Ich wollte weg aus dem Fingerhut der kleinen Stadt, wo alle Steine Augen hatten." Oder später: "Seit der Heimkehr aus dem Lager ist die schlaflose Nacht ein Koffer aus schwarzer Haut. Und dieser Koffer ist in meiner Stirn." Eindringlicher lässt sich, in derartiger Kürze, Erinnerung nicht fassen.

Kommen die Zwangbilder aus dem Lager - sie "wollen mich nachts deportieren, ins Lager heimholen" -, bleibt fast die Luft weg: "Die Atemschaukel überschlägt sich." Das Leben ist im Metaphorischen aufgehoben, das Titelwort steht auch für körperliche Mühen einer Existenz, die beim inhumanen Raubbau dauernd dem "Hungerengel" ausgeliefert ist. Wie kann man den chronischen Hunger erzählen, fragt sich Leopold Auberg, es gebe ja keine passenden Wörter.

Die knappe, präzise Sprache und ihre Bilder schaffen es, ohne den Boden des Schreckens zu verlieren: "Der Gaumen ist größer als der Kopf, eine Kuppel, hoch und hellhörig bis hinauf in den Schädel." Eben mit dieser ihrer Sprachkunst macht Herta Müller eine unbeschreibliche Erfahrung einsichtig und vorstellbar. Nachvollziehbar ist für uns dieses Grauen ohnehin kaum.

Die Motivverknüpfungen schaffen eine eigene Sprachwelt für diese Existenz aus der Welt, die eine eigene Klarheit im Verbrauch des Menschen regiert, Hunger und Tod, Arbeit und Essen: "1 Schaufelhub=1 Gramm Brot" . Aus seiner Perspektive erscheint dem Deportierten das Lager als Unleben, in dem alles andere als das primär Praktische nur Luxus ist.

Die grobe Ordnung des Lagers bezeichnen Titel der mehr als 60 Kapitel (Von der Kohle, Vom Hungerengel) und Wörter, ihr entkommen Wortverdichtungen. Die fünf Jahre lassen sich nicht als chronologischer Ablauf wiedergeben, in der Gleichheit der Tage, sondern nur in Bezug auf Zustände einteilen (der "erste" , "zweite" , "dritte Frieden" für die Jahre ab 1945, die "Hautundknochenzeit" ), in Beginn und Schluss ohne wahrliches Ende, in Verhaltensweisen, Gegenstände, Zwischenfälle, Todeszahlen, Überlebenstechniken, ein paar Einzelschicksale.

Das Lager beschränkt. Vieles gibt es nur mehr als Wort. Ein Kochtopf braucht einen Deckel, heißt es, aber "nur die Redensart vom Deckel war noch da" . Wie sich alles wiedergeben, erinnern lässt, fragt sich der Heimgekehrte und bemerkt: "Erzählen kann man nur, wenn man wieder den abgibt, von dem man erzählt." Herta Müller erzählt poetisch, mit ihren Worten bringt sie das Inhumane und das Humane zu einem unvergesslichen Ausdruck. (Klaus Zeyringer, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 05./06.09.2009)