Bild nicht mehr verfügbar.

ADHS könnte zur Modekrankheit werden.

Foto: APA/dpa/Michael Hanschke
Schulschluss - und nun zwei Monate ohne Stress und innere Unruhe? Doch möglicherweise ist "auffälliges" Verhalten nur das Symptom einer tiefer liegenden Störung - oder einer gestörten Beziehung. Die Diskussion um das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom ADHS ist noch nicht alt, die Gefahr besteht, dass daraus eine Modekrankheit wird. Vielleicht war der Zappel-Philipp aus Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter ein früher Fall von ADHS, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Jedenfalls stellt sich die Frage, ob "Aufmerksamkeitsdefizit" und "Hyperaktivität" Zeiterscheinungn sind, verursacht durch die jeweils aktuelle Flut an Reizen und Informationen, die zu verarbeiten sind, oder um ein grundsätzliches, in den Genen verankertes Problem. Die Psyche von Kindern und Jugendlichen, die Gründe und Ursachen ihres Verhaltens und die teilweise verheerenden Folgen von Missverständnissen in der Kommunikation mit Eltern oder Lehrern beschäftigt immer mehr Ärzte und Psychologen. In diesem Zusammenhang ist ADHS, das Attention Deficit and Hyperactivity Syndrome, eine häufig erwähnte und noch nicht genügend erforschte Krankheit, die schon im frühen Kindesalter auftreten kann, von wesentlicher Bedeutung. ADHS-Symptome unübersehbar ADHS-Symptome bei einem Kind sind unübersehbar. Es fällt vor allem in Gruppensituationen auf, wie zum Beispiel im Schulunterricht, durch innere Unruhe, nervöses Umherblicken und manchmal durch plötzliches Aufspringen. Wenn das Kind alleine spielt, sollte man sich nicht wundern, wenn innerhalb kürzester Zeit alle Laden ausgeräumt sind, denn es sucht ständig nach neuen Reizen. ADHS-diagnostizierte Kinder wirken getrieben, sie müssen überall hinaufklettern und sind somit auch äußerst verletzungsanfällig. ADHS löst Lern-, Verhaltens-, Entwicklungs- und Beziehungsstörungen, starke Verträumtheit, Depressionen und Ängste aus. Jahrelangen Untersuchungen zufolge ist es auf eine genetisch bedingte neurobiologische Funktionsstörung im Bereich derjenigen Hirnabschnitte zurückzuführen, welche übergeordnete Steuerungs- und Koordinationsaufgaben in der Informationsverarbeitung des Gehirns übernehmen. Häufige Symptome wie Ablenkbarkeit und Zappeligkeit werden dadurch bewirkt, dass das Gehirn unwichtige innere und äußere Reize und Impulse schlecht hemmen und ausfiltern kann. Ein Kind, das unter ADHS leidet, kann beispielsweise einem Vortrag eines Lehrers nicht ungehindert folgen, wenn sein Nachbar mit einem Bleistift auf den Tisch klopft oder anfängt zu radieren. Das Kind wird abgelenkt, da es die neuen Reize nicht ablehnen und ausschalten kann. Um die Probleme einer Familie mit einem ADHS-Kind zu verdeutlichen, sollte man sich vorstellen, dass alles, was sonst an einem Kleinkind anstrengend und mühsam ist, von den Eltern in vielfacher Dosis erlebt wird. Das Baby bleibt nicht, wie andere Kinder, auf der Krabbeldecke sitzen, sondern klettert, schon lange bevor es überhaupt gehen kann, aus dem Kinderwagen und langweilt sich nach kürzester Zeit mit jedem Spielzeug. ADHS-Kinder können ihre Impulse nicht kontrollieren, weshalb sie besonders ungeduldig sind, alles sofort haben müssen, was sie wollen, und beispielsweise in einer Reihe nicht warten können, bis sie dran sind. Dadurch ergibt sich eine enorme Vielfalt an Problemen, die solche Kinder zwangsläufig in vielen Fällen in eine Außenseiterposition drängen. Laut neuesten Studien leiden weltweit etwa zwei bis fünf Prozent aller Kinder unter dem Syndrom. Demnach sitzt in jeder Schulklasse mindestens ein ADHS-Kind. Fehlende Informationen Das Phänomen wird zwar in den Medien allseits thematisiert. Die Ausbildung und Aufklärung der zuständigen Fachärzte und Psychologen aber gilt noch immer als mangelhaft, und auch die betroffenen Eltern und Lehrer werden über Auswirkungen im Umgang mit den Verhaltensweisen ungenügend informiert. Dazu kommt, dass das am häufigsten verschriebene Medikament Ritalin umstritten und dessen häufige Verwendung vielfach kritisiert wird. Schon die Diagnose von ADHS stellt ein enormes Problem dar, da die auftretenden Symptome auch bei anderen Störungsbildern zu beobachten sind. Evelyn Patzak, Psychologin und wissenschaftliche Beraterin von Adapt (einem gemeinnützigen Verein zur Förderung von Personen mit ADHS und Teilleistungsschwächen in Wien), betont die Wichtigkeit einer fachgerechten Diagnostik, welche nicht nur auf dem Auftreten der genannten Symptome basiert, sondern insbesonders den Grad der Beeinträchtigung des täglichen Lebens messen sollte. Eine Art Modekrankheit Hört man Experten über ADHS sprechen, wird immer wieder über strenge Kriterien für die Erstellung einer Diagnose gesprochen. Dadurch soll nicht allzu leichtfertig die Hyperaktivität bei Kindern diagnostiziert werden - was laut Hans Salzer, dem Vorstand der Kinderabteilung der Landeskrankenanstalt Tulln, leider sehr häufig passiert: "ADHS wird langsam auch zu einer Art Modekrankheit." Dr. Salzer sieht die Gefahr darin, dass viele Eltern, sobald ihr Kind Lernschwächen oder Verhaltensstörungen an den Tag legt, sehr schnell der Meinung sind, es leide unter Hyperaktivitätsstörung. Es ist offensichtlich einfacher, die Probleme seiner eigenen Kinder auf eine genetisch bedingte Krankheit zu schieben, als sich einzugestehen, eventuell aufgrund falscher Erziehungsmethoden oder familieninterner Konflikte Mitschuld daran zu haben, dass das Kind psychische Probleme hat. Allerdings gibt es auch den gegenteiligen Fall: Statt die Symptome der Krankheit zu erkennen - was entweder auf Unwissenheit oder einfachem Desinteresse der Eltern beruht -, werden die Kinder für Konzentrationsschwächen, Lernschwierigkeiten und Verhaltensprobleme bestraft. Grundprinzipien für die Diagnose Sowohl die American Academy of Pediatrics - die Gesellschaft amerikanischer Kinderärzte - als auch die National Attention Deficit Disorder Association haben Grundprinzipien veröffentlicht, die sozusagen Eckpfeiler der Diagnose von ADHS darstellen. Ist die Krankheit einmal festgestellt, bedarf es einer sorgfältigen individuellen Verordnung therapeutischer Maßnahmen, die je nach dem Schweregrad unterschiedlich sind. Grundsätzlich ist Basis jeglicher Behandlung eine Psychotherapie, die von Fall zu Fall durch die Verabreichung von Medikamenten unterstützt und ergänzt werden kann. Das am häufigsten eingesetzte Mittel ist Ritalin, als Substanz bereits 1907 entdeckt und 1954 als mildes Psychostimulans auf den Markt gebracht (heute vom Pharmakonzern Novartis produziert). Seine Verabreichung ist immer noch ein heikles Thema. Gerüchte um Spätfolgen wie etwa Morbus Parkinson nach der Einnahme dieses Mittels werden immer lauter. Befürworter von Ritalin verlassen sich auf die 40-jährige Erforschung der Wirkstoffe des Medikaments und betonen die dadurch bewirkte Abschwächung der Symptome und die Verbesserung der Lebensqualität bei vielen Kindern. Ritalin wird in vielen Ländern sehr unreflektiert von Ärzten verschrieben, was die ständige Kritik über den Umgang mit diesem Medikament noch verstärkt. In Österreich hat sich der Verbrauch in den letzten zehn Jahren zwar verdoppelt, aber es gilt eine strengere Übereinkunft auf diesem Gebiet: Die erstmalige Ritalin-Einstellung kann nur im Krankenhaus über Fachärzte für Kinderheilkunde oder Psychiatrie erfolgen. Die Schwierigkeit, ADHS zu erkennen, zu diagnostizieren und zu behandeln, erfordert weiterhin viel Aufklärung und Information. Ob die allgemeine Zunahme an Reizen der Grund für den Anstieg der Diagnosen ist oder ob die Krankheit immer schon in diesem Ausmaß vorhanden war und nur unentdeckt blieb, eines dürfte klar sein: ADHS darf keine Ausrede für Erziehungsprobleme werden. (Mirja Erbs, DER STANDARD, Print, 29./30.06.2002)