Rott am Inn - Kein anderer Wissenschaftler hat sich als
Zeit-Diagnostiker, Mahner und Vordenker der "Weltinnenpolitik" durch
Jahrzehnte im öffentlichen Leben in Deutschland vergleichbare
Autorität erworben - und sich der Kritik gestellt bis jüngst wieder
in seinem 90. Lebensjahr. Dass er gehört wird, dessen konnte sich der
Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von
Weizsäcker, der am 28. Juni seinen 90. Geburtstag feiert, stets
gewiss sein.
Kaum einer hat sich auch wie er immer neu aufgerieben an der
Diskrepanz zwischen dem erkannten Notwendigen und dem politisch
Machbaren. Zwei Mal hat er nicht zuletzt aus diesem Grund die ihm
angetragene Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten abgelehnt
und diese Aufgabe seinem jüngeren Bruder Richard überlassen.
Heute lebt der mit Auszeichnungen und Ehrungen überhäufte,
vielleicht letzte deutsche Universalgelehrte bei seiner Tochter in
Oberbayern, nachdem er seine Frau Gundalena nach 63 Ehejahren vor gut
zwei Jahren verloren hat. Zeitung liest er noch immer täglich, auch
die Fernsehnachrichten werden verfolgt, "aber ich nehme wohl nicht
mehr mit der gleichen Schärfe auf wie früher", räumte er ein.
Schreibt er noch? "Da bringe ich nicht mehr viel zu Stande. Auch das
Gedächtnis lässt mich doch immer wieder im Stich".
Erinnerung an Otto Hahn
Unauslöschlich im Gedächtnis ist ihm die Nacht, nachdem ihm Otto
Hahn 1939 am Telefon von seiner Entdeckung der Uranspaltung berichtet
hatte. "Ich ging damals, als ich verstanden hatte, dass man
Atombomben bauen kann, zu meinem Freund, dem Philosophen Georg Picht.
Wir haben dann bis zum frühen Morgen die Konsequenzen erörtert. Und
wir wussten: Das verändert jetzt die politische Struktur der ganzen
Welt."
Dieses Nacht-Gespräch gab die Leitmotive vor für Weizsäckers
gesamtes späteres politisches Wirken: Die Wissenschaft trägt
Verantwortung für die eigenen Ergebnisse - auch wenn deren Folgen
nicht gewollt und nicht einmal absehbar sind. Die Kriegsverhütung
wurde in den folgenden Zeiten der Ost-West-Konfrontation zu seinem
zentralen Engagement.
Karriere in der Wissenschaft
In der Physik hatte der brillante junge Schüler des späteren
Nobelpreisträgers Werner Heisenberg seine wissenschaftlichen
Lorbeeren errungen. Die Karriere: Mit 21 promoviert, mit 24
habilitiert, mit 30 Professor für Theoretische Physik in Straßburg.
1943 erscheint das wissenschaftliche Hauptwerk "Zum Weltbild der
Physik". Seine zweite Liebe war von jeher die Philosophie, für die er
schließlich auch einen Lehrstuhl erhielt.
"Bohr-Papiere"
Im Februar 2002 hat Weizsäcker, der sich im Alter zunehmend den
(religiösen) Grundlagen einer globalen Ethik widmete, sein Leitmotiv
der Verantwortung der Wissenschaft wieder eingeholt. Die
Veröffentlichung der "Bohr-Papiere" über das legendäre Treffen
zwischen dem dänischen Physiker Niels Bohr und seinem Schüler Werner
Heisenberg 1941 im besetzen Kopenhagen gab den Feuilletons erneuten
Anlass, über die Verstrickung der deutschen Physiker-Elite unter dem
Hitler-Regime zu spekulieren.
Weizsäcker blieb auch jetzt bei seiner Sicht. Heisenberg sollte
seinen Lehrer Bohr dafür gewinnen, den Amerikanern und Engländern mit
seinem ganzen Renommee zu vermitteln, was die deutschen Physiker
wussten, aber nicht zu sagen vermochten: dass Deutschland zu diesem
Zeitpunkt keine Atombomben bauen konnte. Diese Intention habe Bohr
auf tragische Weise missverstanden und fehlinterpretiert.
Die eigene Rolle in den damaligen Verfänglichkeiten zwischen
wissenschaftlichem Ehrgeiz und politischer Naivität hat Weizsäcker
früher und unerbittlicher als jeder heutige Feuilletonist gesehen und
bekannt. In einem Gedicht unmittelbar nach dem Krieg schrieb er:
"Furchtbare Klugheit, die mir riet Geduld! O Zwang, Verstrickung,
Säumnis! Schuld, o Schuld!" ("Zeit und Wissen", 1992). (APA/dpa)