Wien - Der Schwulenparagraf 209 ist gekippt. Die Entscheidungen der Höchstrichter über Ambulanzgebühr und Hauptverband werden in Kürze erwartet, die über Ortstafeln oder Pensionsreform sind noch in guter Erinnerung. Ist der Verfassungsgerichtshof politischer geworden?Der Paragraf 209 ist ein schlechtes Beispiel dafür, findet Theo Öhlinger. Denn: "Diese Entscheidung ist eine juristische, obwohl sie politische Konsequenzen hat." Sonst würde Öhlinger, Vorstand des Instituts für Staatsrecht, die Urteile der Verfassungsrichter schon als politischer einordnen: "Politisch in dem Sinn, dass der VfGH eine Wertung fällt, die nicht einfach aus dem Verfassungstext abzuleiten ist. Es gibt wenige Entscheidungen, hinter denen kein Fragezeichen steht." In den 70er-Jahren agierten die Höchstrichter viel zurückhaltender (und wurden für Laxheit kritisiert). Die umstrittene Fristenlösung etwa wurde nicht beurteilt, sondern schlicht zur Sache des Gesetzgebers erklärt. Heute überlässt der VfGH das Gesetzemachen viel weniger den Politikern: urgiert etwa eine andere Familienbesteuerung, lässt das Semmeringtunnel-Verfahren neu aufrollen, erklärt die Zivildienstnovelle für verfassungswidrig. Früher, sagt der Verfassungsjurist Heinz Mayer, haben die Höchstrichter streng die Verfassung interpretiert. Heute aber überlegten sie, was denn der Gesetzgeber gewollt haben könnte. Diesen "offenen Zugang" sieht Mayer als "sehr problematisch". Und ätzt: "Der Anfang der 80er-Jahre erwachten Lust am politischen Gestalten kann man am besten frönen, wenn man sich nicht zu sehr ans Gesetz hält." Richter gehen "zu weit" Auch Öhlinger glaubt, dass die Höchstrichter "den Spielraum der Gesetzgeber teils unzulässig einschränken". Ob etwa ein Ambulanzbesuch etwas koste, sei genauso Sache von Regierung oder Parlament wie die Frage, ob Unfallrenten besteuert werden. Wenn der Verfassungsgerichtshof auch "manchmal zu weit geht", ist ein politischerer Höchstgerichtshof für Öhlinger prinzipiell "ein Anschluss an eine europäische Entwicklung und die modernere Form". Zudem fülle der VfGH politische Lücken: "Im Minderheitenschutz hat der VfGH den Gesetzgeber zu ein bisschen mehr Aktivität gezwungen." Ein bisschen wäre ja gut. Die Höchstrichter hätten aber verlernt, Maß zu halten, meint Mayer: "Das bringt den Verfassungsgerichtshof in Konflikt mit den Parteien, weil er unberechenbarer ist." Beifall von Politikern brauche der VfGH nicht, kontert dessen Präsident Ludwig Adamovich distinguiert. Im Gegenteil: "Wenn der Beifall zu groß ist, stimmt etwas nicht." Der Beifall wäre vielleicht größer, würde ein moderner Grundrechtskatalog das Zusammenspiel zwischen Machern und Hütern der Gesetze erleichtern. So aber agieren die Richter auf dem Staatsgrundgesetz von 1867, das 1920 in die Verfassung gestellt wurde - und interpretieren dürre Sätze wie "alle Staatsbürger sind vor dem Recht gleich". Überinterpretieren, kritisiert Mayer: "Die Schlüsse sind oft zu weitreichend." Ein Befund, dem Politiker teils widersprechen. So meinte ÖVP-Grande Heinrich Neisser einmal selbstkritisch: "Der Verfassungsgerichtshof urteilt deshalb so oft politisch, weil Politiker umstrittene Entscheidungen abschieben." (Eva Linsinger, DER STANDARD, Printausgabe 26.06.2002)