Frankreichs Premier Jean-Pierre Raffarin wurde vor einem Monat von Staatschef Jacques Chirac vor allem als Wahlkämpfer berufen. Zeichnete sich "Raffarin eins" durch wahltaktische Rhetorik aus, muss "Raffarin zwei" nun Taten nachschicken. Als erstes wird der Premier, der am Montagabend seine Regierung gebildet hat, eine Amnestie für Verkehrssünder ausarbeiten. Ausnahmsweise sollen die Abgeordneten bis in den August hinein tagen. Chirac will damit anzeigen, dass "seine" Regierung wirklich handlungsbereit ist. Zentraler Punkt ist die Senkung der Einkommenssteuer um fünf Prozent. Chirac versprach, er werde diese Steuern bis 2007 insgesamt um dreißig Prozent senken. Die Maßnahme kostet den französischen Staat bereits in diesem Jahr 2,7 Milliarden Euro. In deutschen Regierungskreisen hatte es am Montag in Berlin geheißen, Frankreich drohe ein so genannter blauer Brief aus Brüssel, weil das Land mit 2,6 Prozent nahe an der Defizitobergrenze von drei Prozent liege. Die Regierung will auch große Mittel für die Bekämpfung der Kriminalität bereit_stellen. Vorgesehen ist die Ausbildung Hunderter Polizisten, der Bau von geschlossenen Anstalten für rückfällige Jugendstraftäter sowie der Ausbau von Strafgerichten, dafür will Raffarin insgesamt sechs Mrd. Euro aufwenden. Ob das nötige Geld vorhanden ist, wird sich erst am 27. Juni weisen, wenn ein Bericht über den Stand der öffentlichen Finanzen publiziert werden soll. Damit zusätzliches Geld in die Staatskasse fließt, will Wirtschaftsminister Francis Mer mehrere staatliche Unternehmen - unter anderem die France Télécom oder die Air France - privatisieren. Die neue Regierung will zudem die 35-Stunden-Woche modifizieren. Sie wird sie zwar nicht außer Kraft setzen, aber stark verwässern. So sind Regelungen geplant, die Handwerks- und Kleinbetrieben Ausnahmen im Bereich der Überstunden ermöglichen. Der Forderung von links nach Erhöhung der Mindestlöhne (bisher rund 1100 Euro) über die Teuerung hinaus will Raffarin nicht nachkommen. In den Schlüsselpositionen des Kabinetts Raffarin zwei blieben Veränderungen aus. Zur neuen Europaministerin wurde Noëlle Lenoir, Mitglied des Verfassungsrates, ernannt. Der bisherige Europaminister Re_naud Donnedieu de Vabres reichte seinen Rücktritt ein. Gegen ihn wird in einer Geldwäsche-Affäre ermittelt. Innenminister Nicolas Sarkozy und Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie bleiben ebenso im Amt wie Außenminister Dominique de Villepin und Finanzminister Francis Mer. Ex-Premier Alain Juppé wurde zum Übergangschef der künftigen Präsidenten-Partei UMP von Chirac bestimmt. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 19.6.2002)