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Foto: APA/Pfarrhofer
Bis zur Erschöpfung arbeitet Frank Castorf mit seiner Berliner Volksbühne an einer Art Neuerfindung der Theaterkunst. Seine Adaption von Bulgakows "Der Meister und Margarita" entfesselt im Wiener Museumsquartier Teufel und Heilige. Ein schwieriger, großer Abend. Wien - Michail Bulgakow, der die Moskauer Schauprozesse wie durch ein Wunder überlebte, den die Säuberungswellen nicht erfassten, mit denen die sowjetische Intelligenz hinweggespült wurde, mag in Stalin den Popanz der Weltrevolution erblickt haben. Vielleicht war Stalin, der Welt größter Konzeptkünstler als Verbrecher, für ihn ein natürliches Gegenüber. Stalins beispiellose Allmacht, die vollkommene Durchdringung des sowjetischen Alltags mit Exzessen seiner unberechenbaren "Regierungskunst", erinnert stupend an die Allmacht des modernen Künstlers.

Die grenzenlose Verfügung über alle denkbaren Mittel der Ausdruckskraft ist nichts anderes als: grenzenlose Autorschaft. Stalin, der ausschließlich spätnachts, wie ein das Tageslicht scheuender georgischer Vampir, im Kreml seinen Amtsgeschäften nachging, schrieb die damals bekannte Welt um. Dabei löschte er Millionen Menschenleben mit einer Reihe von Federstrichen völlig ungerührt aus.

Bulgakow - er starb 1940 eines natürlichen Todes - erfand in seinem versteckt gehaltenen Roman Der Meister und Margarita die abendländische Offenbarungsgeschichte von Grund auf neu. Jeshua (Jesus) erlöst Pontius Pilatus, Prokurator von Judäa, als solcher Vertreter korrumpierter Macht, durch gutes Zureden von dessen dröhnenden Kopfschmerzen.

Dafür entlässt Bulgakow den Teufel, einen Kronzeugen von Jeshuas Kreuzigung, rund 2000 Jahre später persönlich nach Moskau. Die Verhältnisse geraten sofort in die allergrößte Konfusion. Der Teufel (Henry Hübchen) empfiehlt sich selbst als "Spezialist". Er ist der Mephisto aus der DDR und hat vom Blocksberg viel gute Laune mit in das zerfallende, in eine Kantine mit Kühlvitrine verwandelte Moskau heruntergenommen.

Satans Knappen

Da wären auch noch seine beiden schusseligen Gehilfen, lustige Mordbuben, eine fette Katze mit Michael-Jackson-T-Shirt (Hendrik Arnst) und ein aufgeschossener Verrückter (Marc Hosemann), der Spiegeleier kocht und sie mit Zigarettenasche würzt.

Volksbühnen-Star Hübchen scheint dem DDR-Ministerium für Swing-Jazz-Angelegenheiten entlaufen. Er setzt sich in Bert Neumanns Chalet, das die Berliner Volksbühne in das Museumsquartier als Clubcenter hineingebaut hat, auf einen Stapel von Plastikkorbsesseln. Plastikmöbel brechen in den wahnwitzigen Inszenierungen von Frank Castorf gerne einmal unter dem Druck der Gesäßverhältnisse auseinander.

Und es rührt schon an die Logik der heiligen Offenbarung, wie Castorf große Romane der russischen Weltliteratur in lauter Papierschnitzel auseinander reißt. Irgendwann in den fünf Stunden kommt immer ein Schauspieler um die Ecke und hat ein paar Schnitzel intus: Sie verschluckt habend, beginnt er dann, ein feistes, improvisiertes Eigenleben zu führen.

Castorfs Schauspieler sind die schönsten, teuersten Liebesobjekte der Welt. Sie entziehen sich mehr und mehr der Totale auf der Bühne, dem unverstellten Blick. Denn ihr Regisseur, der nach Stalin und Bulgakow nächstgrößte Godfather an diesem Abend, sperrt sie in Duschkabinen und Schlafkojen ein.

Er baut ein Tapeten-Judäa auf die Rückseite von Neumanns Kantinenschloss. Vor diesem Nahostprospekt mit Steinhäufchen aast und maunzt Pilatus (Martin Wuttke) mit einer Insektenhornbrille. Auf den Haupthelden der abendländischen Heilsgeschichte, die in das Unheil des Stalinismus obszön hinüberlappt, ruht wohlgefällig das Auge einer Handkamera.

Man sieht, wie die bass erstaunten, wild entsetzten Augenzeugen der teuflischen Umtriebe unversehens in der Klapsmühle landen. Ein Lyriker (Milan Peschel) begegnet dem "Meister" (wiederum Wuttke) - Autor jener apokryphen Heilsgeschichte, die von Jesu Tod in der Fassung von Bulgakow handelt.

Die Insassen dieser Ner- venheilanstalt vergeuden schlammbadend den einzigen Rohstoff, der ihnen zur Verfügung steht: Zeit. Und immerzu weidet auf ihnen Castorfs Kamera (geführt von Jan Speckenbach): die größte denkmögliche Kriegserklärung an das Theater.

Und doch siegt am Schluss, wie mit Teufels Hilfe, das Theater. Der Meister (Wuttke) findet durch Margarita, das Berliner Gör (Kathrin Angerer), das über einem Pappendeckel-Moskau schwebt, zurück in die Wirklichkeit.

Castorf produziert den dialektischen Handstand-Überschlag: Er klopft den Roman klein. Castorf, der letzte, grundgütige "Gott", inszeniert die Verschwörung aller gegen alle. Er konspiriert gegen das Theater. Und dieses spielt bereitwillig mit. Mehr kann die Bühnenkunst nicht wollen: Sie tanzt über ihre Verhältnisse. Und in diesem andauernden Vibrieren tanzt die globalisierte Welt mit. Schöner und größer kann die Kunst, indem sie über sich nachdenkt, nicht scheitern. Darin ist dieser maßlose, gottlose Festwochen-Abend groß wie kein anderer zurzeit. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.6.2002)