Wien - Nadia Ross und Jacob Wren spannen in ihrem Festwochen-Beitrag Recent Experiences das gesamte 20. Jahrhundert auf eine Zeitspule. Und was dann abschnellt, ist eine recht banale, amerikanische Familienchronik, exakt von 1900 bis 2002: Mann und Frau sind verliebt, bekommen Zwillinge, der Vater verschwindet; ein Mann kommt, verliebt sich in die eine Zwillingstochter, zieht in den Krieg (1940), kommt zurück und heiratet eine der beiden Töchter. Diese stirbt, so heiratet er die andere. Sie bekommen eine Tochter, und gemeinsam ziehen sie in die Einöde.

Jahre später: Ein Mann kommt und gibt vor, die Familie von den Enttäuschungen dort zu erlösen. Er verliebt sich in die Tochter, verschwindet. Sie bringt dann, mittlerweile 1973, eine Tochter zur Welt, die sich an ihrem 18. Geburtstag für mehrere Jahre in den Acker setzt (!), um über ihr Leben nachzudenken. Schlusssatz: "Life ist simple." Na, bitte.

Das dynastische Unternehmen - Ergebnis der ersten Zusammenarbeit der kanadischen Avantgardetruppen "STO Union" und "Candid Stammer" - ist emotionslos, duster und in knapp fünf Viertelstunden abgeschlossen. Nadia Ross, am Wiener Burgtheater und am Berliner Ensemble ausgebildete Regisseurin mit Tätigkeitsfeld Kanada, setzt Schauspieler und Zuseher gemeinsam an einen großen, ovalen Konferenztisch im Finstern. Die jeweiligen Redner werden im schwachen Spotlicht ausgemacht, sie erheben sich, klettern über den Tisch in die freie Fläche in der Mitte, setzen sich, gehen ab, wenn sie "gestorben" sind.


Nüchtern betrachtet

Der Kunstgriff einer Trennung von Gefühl und Inhalt, die Fokussierung eines sachlichen Ablaufs mit anschließender Musikentladung (z. B. "I'm a Wanderer"), ähnelt dem des New Yorker Theatermachers Richard Maxwell, vor zwei Jahren bei den Festwochen zu Gast: Konflikte werden nicht ausgetragen, sondern im nüchternen Ton ausgesprochen. Sie bleiben ungelöst im Raum stehen. Im Zeitraffer fällt ein Leben ins andere und bleibt jeweils nur an der Oberfläche erkennbar.

Ross und Wren haben Recent Experiences zu einer lakonischen Jahrhundertgenese verarbeitet. Ein Denkstück mit vielen Zugriffs- und Einstiegsmöglichkeiten, verschiebbar, umkehrbar, fortsetzbar. Das Spiel denkt die Zeit und rechnet das Leben. Eine Chronik ohne Gefühle, die die "Geschichte im Ich" als "Ich in der Geschichte" sucht. Ein konsequenter, gelungener Abschluss des Zyklus festwochenforum ff . (DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.6.2002)