Wien - Eine plakative Forderung an Tschechien und Slowenien nach Aufhebung der Benes-Dekrete und AVNOJ-Beschlüsse ist nicht aufrechtzuerhalten. Dies erklärte der Geschichtsprofessor Stefan Karner am Donnerstag anlässlich der Präsentation des Buches "Fragen und Antworten zur EU-Erweiterung" in Wien. "Es ist undenkbar, die Aufhebung aller Benes-Dekrete zu fordern, da diese die Grundlage des tschechischen Staates bilden." Man könne auch in Österreich nicht die Aufhebung der Kelsen-Verfassung fordern. Von den insgesamt 143 Benes-Dekreten hätten nur rund 15 die kollektive Ausbürgerung und Enteignung der deutschen und ungarischen Minderheit betroffen, so Karner. Fünf davon seien auch heute noch Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung und kämen in der Verwaltung und bei Gericht zur Anwendung. Die Dekrete 5, 12, 108 und 35 würden die Vermögenskonfiskation und das Dekret 33 die Ausbürgerung der genannten Minderheiten betreffen. Die weiteren zehn Dekrete seien durch die Entwicklung obsolet geworden. Ebenso gebe es Hunderte jugoslawische AVNOJ-Beschlüsse, bei denen nur einige die Enteignung der deutschsprachigen Minderheit betreffen. Das umstrittene und oft zitierte Straffreistellungsgesetz von 1946 in Tschechien sei nicht Bestandteil der Benes-Dekrete, betonte Karner. Dieses Gesetz erklärte Handlungen zwischen 1938 und 1945 dann nicht für widerrechtlich, wenn deren Zweck ein "Beitrag zum Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen oder Slowaken" oder "eine gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten oder ihrer Helfersthelfer" war. Bis heute gebe es keinen einzigen Fall einer persönlichen Strafverfolgung, erklärte Karner. Aufklärung "enorm wichtig" Eine Aufklärung über den Inhalt der Benes-Dekrete sei sowohl in Tschechien als auch in Österreich "enorm wichtig", erklärte Karner. "Nur so kann man von der gefühlsbetonten Diskussion wegkommen". Über 40 Jahre sei dieses Thema tabuisiert worden. "Es bedarf einer gemeinsamen Aufklärung". Karner hob als Beispiel die österreichisch-slowenische Historikerkommission hervor, die "wesentlich" sei, um Brücken zu schlagen. Es gebe aber auch in Tschechien Personengruppen, die für eine differenzierte Geschichtsauffassung offen seien, die jedoch in der Wahlkampfstimmung in Tschechien nicht wahrgenommen werden würden. Das gegenüber der deutschsprachigen Minderheit verübte Unrecht bleibe Unrecht, auch wenn man Erklärungen dafür finden könne, betonte Karner. Um die Ereignisse zwischen 1944 und 1948 zu erklären, bedürfe es allerdings der Miteinbeziehung der Vorgeschichte. Da den Slawen und der jüdischen Bevölkerung die Lebensgrundlagen von Hitlerdeutschland entzogen worden waren, handle es sich um einen "klassischen Fall" von Genozid, den die Nazis begangen hätten. Die "gleiche Haltung" wurde von Seiten der totalitären Regimes in der ehemaligen Tschechoslowakei und in Ex-Jugoslawien an den Tag gelegt. Deshalb habe es sich um ein "genozidähnliches" Vorgehen an der deutschen, und ungarischen und jüdischen Bevölkerung gehandelt. Der Direktor der Politischen Akademie, Günther Burkert-Dottolo erklärte, dass Tschechien im britischen Einflussbereich liege und Prag aufgrund dieser Beziehung auch eine "gute Stellung" innerhalb der EU habe. Er wünsche sich deshalb, dass London einen positiven Beitrag zur sachlichen Auseinandersetzung in der Frage der Benes-Dekrete leiste. (APA)