Wien - Bundespräsident Thomas Klestil warnt die Bundesregierung vor Polarisierung und Lagerdenken - nicht erst seit Montagabend, im Rahmen des Festaktes der Raiffeisen-Zentralbank. Bereits im Mai und vergangene Woche, vor dem Gemeindetag in Innsbruck, sprach der Bundespräsident Warnungen aus. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) erwiderte gestern, sichtlich verärgert, und wies Klestils Vergleich mit politisch schwierigen Zeiten in Österreich, im Jahr 1927, deutlich zurück. Nachfolgend die wörtlichen Zitate.
  • 8. Mai
  • - Erklärung der Presseabteilung der Präsidentschaftskanzlei: "Der Bundespräsident bedauert, dass es in den letzten Jahren zu einer gesellschaftspolitischen Radikalisierung gekommen ist und bedauerlicherweise die undifferenzierte Lager-Mentalität überhand genommen hat: 'Die Basis in einer funktionierenden Demokratie ist die Toleranz gegenüber Andersdenkenden und der Verzicht auf ein Schwarz/Weiß-Denken.' Er habe seit seinem Amtsantritt immer wieder auf die Gefahren der Radikalisierung der Sprache hingewiesen, betonte Thomas Klestil: 'Ich bedaure, dass wir zuletzt eine Eskalation erlebten, die zu einer verstärkten Polarisierung in unserer Gesellschaft geführt hat'."

  • 7. Juni
  • - Klestil vor dem Gemeindetag in Innsbruck: "Ich werde nicht müde, zu wiederholen, dass mir der Stil des Umganges, den oftmals die Politiker miteinander pflegen und der auf die allgemeine Atmosphäre im Lande abfärbt, nicht gefällt. Verschiedene Meinungen zu haben ist gut - sie äußern zu können, gehört zum Wesen einer Demokratie. Aber derjenige, der eine andere Meinung hat, ist noch lange kein Feind. Ich sehe gegenwärtig in unserem Land mit Besorgnis Zeichen für eine wachsende Polarisierung. Ein politisches Lager-Denken wird stärker, obwohl es längst totgeglaubt schien. Und es scheint, man steht sich in Blöcken gegenüber, was in keiner Weise der Pluralität unserer offenen Gesellschaft entspricht."

  • 10. Juni
  • - Festakt Raiffeisen-Zentralbank - Manuskript der Klestil-Rede: "Angesichts der Zeichen für eine Polarisierung in unserem Land warne ich vor einem politischen Lagerdenken, das in keiner Weise der Pluralität unserer offenen Gesellschaft entspricht. Wir müssen vielmehr alle Möglichkeiten künftiger Zusammenarbeit offenhalten, wollen wir nicht die Staatsbürger schon im vorhinein entmündigen. Auch hier gilt, dass die demokratische Breite und Vielfalt in unserer politischen Landschaft ausgelotet werden muss."

    Das Manuskript wurde einige Stunden später geändert. Klestil erklärte während des Festaktes wörtlich: "Im Juli des Jahres 1927 brannte der Justizpalast, die Exekutive schoss auf Demonstranten, es gab 200.000 Arbeitslose, eine Viertelmillion Menschen war ausgesteuert, was bedeutete, dass sie auf die öffentliche Fürsorge angewiesen waren, politisches Lagerdenken hatte damals und hat zu keiner Zeit Vorteile für unser Land gebracht. Ich erwähne das, um daran zu erinnern welches Umfeld damals in den ersten Jahren der Raiffeisen Zentralbank bestanden hat."

    Bundeskanzler Schüssel nahm in seiner Rede sichtlich Bezug auf Klestils Manuskript, weil er seine Rede vor dem Bundespräsidenten hielt: "Das Jahr 1927 war ein dramatisches Jahr, kein Mensch käme heute auf die Idee, diese Jahre überhaupt miteinander zu vergleichen. Das Jahr 1927, ein Jahr in dem der Justizpalast gebrannt hat, ein Jahr in dem es Arbeitslose gegeben hat und heute eine blühende Republik, die den 3,1 Mill. Menschen Arbeit gibt, wo sozialer Friede herrscht".

(APA)