Der Brief einer vierfachen Mutter aus Minneapolis brachte den Stein ins Rollen: FBI-Agentin Coleen Rowley warf darin ihrem mächtigen Direktor Robert Mueller unverblümt die katastrophalen Fehler seiner Bundespolizei vor. Laut Rowley hätte das FBI-Hauptquartier die Untersuchungen ihres Büros gegen den inhaftierten Terrorverdächtigen Zacarias Moussaoui boykottiert. Die Bürokraten in Washington hätten mühsam erworbene Erkenntnisse, die möglicherweise den Anschlag vom 11. September verhindern hätten können, falsch eingeschätzt oder ignoriert, Wochenlang hatten die Agenten in Minneapolis versucht, Zugang zum Computer des Flugschülers Moussaoui, der nun als verhinderter 20. Attentäter vor Gericht steht, zu erhalten, und wurden von Washington blockiert. Sie sei zutiefst besorgt, dass Mueller und die FBI-Spitze das Versagen durch eine geschickte PR-Offensive vertuschten, statt das Problem direkt anzugehen.Hohe Wellen Rowley schickte eine Kopie des Briefes an den Kongress, wo er hohe Wellen schlug. Schließlich war kurz davor die Aktennotiz aus Arizona, wo ein anderer FBI-Agent die Überprüfung aller nahöstlichen Flugschüler gefordert hatte, und die Besprechung bei Präsident Bush im August 2001 über die Gefahren des El-Kaida-Netzwerkes bekannt geworden. Die Rolle eines "whistle-blowers", der Unregelmäßigkeiten ohne Rücksicht auf Verluste den zuständigen Behörden meldet, ist für die gelernte Anwältin neu: Die als nüchtern, fleißig und effizient bekannte Agentin zeichnete sich in 21 Jahren FBI-Dienst in erster Linie durch ihre Loyalität zu ihrem Arbeitgeber aus. Verblüffend auch die Reaktionen von FBI-Direktor Mueller und Justizminister John Ashcroft: Anstatt sie zu bestrafen, dankten ihr beide öffentlich für ihren Mut. In einer Flucht nach vorn präsentierte Mueller ihren Brief als wichtigen Anstoß für eine überfällige FBI-Reform. Senat und Repräsentantenhaus reagierten auf Rowley mit der raschen Einberufung von Untersuchungsausschüssen, die sich mit den Pannen vor dem 11. September beschäftigen. Der erste Zeuge am vergangenen Donnerstag war Rowley selbst, die erneut eine Reorganisation der Bürokratien forderte und eine weitere, recht bescheidene Bitte vorbrachte: "Es wäre nett, wenn man uns neue Computer geben würde." Doch die Schlagzeilen besetzte am Freitag Präsident George Bush mit seinem Ministerium. Die hinter verschlossenen Türen gehaltenen Anhörungen werden dennoch weitergehen. Denn die Frage, ob die Tragödie des 11. September hätte verhindert werden können, wenn die verschiedenen Geheimdienste miteinander statt gegeneinander gearbeitet hätten, wird durch Bushs Reformpläne nicht beantwortet. (DER STANDARD, Print, 10.6.2002)