Bild nicht mehr verfügbar.

Montage: Reuters/derStandard.at
Christian Meier ist ein Mann des großen Überblicks und der geschichtlichen Reflexion ohne fachliche Scheuklappen. Der Münchner Althistoriker, einem größeren Publikum vor allem durch seine Bücher über Caesar und über das antike Athen bekannt, hat sich in seinem jüngsten Werk nicht weniger vorgenommen, als die Gründe für den historischen Sonderweg Europas zu erkunden und danach zu fragen, wie sich unsere heutigen Gesellschaften überhaupt noch zu ihrer Geschichte stellen können. Als eurozentrisches Unterfangen möchte dies Meier nicht verstanden wissen. Die vor allem in Deutschland beheimatete Gepflogenheit, die außereuropäische Geschichte zu ignorieren, sei "mehr als ein Atavismus, als eine Krähwinkelei und eine Rücksichtslosigkeit, nämlich eine Dummheit." Von Athen bis Auschwitz ist derTitel des Opus, der sogleich zwei entscheidende Punkte auf der Wegstrecke, die Europa zurückgelegt hat, benennt und dieser schroffen Gegenüberstellung auch eine teleologische Geschichtsbewegung im Sinn eines zivilisatorischen Fortschrittes in Frage stellt. Mit Athens Sieg über die Perser erhält erstmals eine europäische Macht in einem Prozess, dessen Geschwindigkeit für Meier "kaum zu begreifen" und durchaus mit den beschleunigten Umwälzungen der Gegenwart zu vergleichen sei, den Status einer Weltmacht. Die etwa vierzigtausend erwachsenen männlichen Bürger Athens erlangen diesen Status unvorbereitet und sehen sich gleichsam über Nacht dazu gezwungen, ihre politische Ordnung, die zuvor auf einem Sockel von Selbstverständlichkeiten ruhte, neu zu durchdenken, in Satzungen niederzulegen, zu rationalisieren. Damit entwickeln sie eine Reihe von Grundsätzen, die die europäische Geschichte über Jahrhunderte hinweg bestimmen werden. Der Grundsatz der Demokratie etwa, "dass die, die insgesamt von den Entscheidungen betroffen sind, sie auch treffen sollen, wird in ungeheurer Radikalität und nur hier verwirklicht." Lässt sich, im Sinne einer "rückwirkenden Kraft", die Nietzsche der Geschichte zugeschrieben hat, von Auschwitz, jenem anderen Punkt aus, den Meier als Ende des europäischen Sonderwegs sieht, auf Athen zurücksehen, kann der Geschichtsschreiber beide "als Teil eines Ganzen" begreifen? Meier umkreist den erratischen Block Auschwitz, und obwohl er viele Gründe aufzählt, die zu ihm geführt haben - von der großkriminellen Energie der Naziführerschaft, die sich mit den Frustrationen, Trotzreaktionen und der "schizoiden Apathie" ihrer kleinen Helfershelfer verband über vieles andere mehr: Als "Teil eines Ganzen" sei Auschwitz nicht zu begreifen. "Sucht man die alten Annahmen vom Sinn der Geschichte von Auschwitz her zu denken, jene Annahmen, die in der Geschichte den Weg zu einer umfassenden Verbesserung der Menschheit und der Welt, zum immer besseren Verhältnissen sahen, so bleibt nur die Möglichkeit, es als Rückschlag ungeheuersten Ausmaßes anzusehen und irgendwie in diesen Prozeß einzuordnen. Einen Sinn in Auschwitz zu sehen, ist nach meinem Urteil auch dann nicht möglich." Auschwitz steht für Meier auch nicht am Ende einer zwangsläufigen, quasi naturgesetzlich determinierten Entwicklung, sondern es lässt sich eher aus einem Prozess heraus verstehen, der dem Menschen, im Guten wie im Bösen, zunehmend Herrschaft über die Welt gibt, nicht aber über sich selbst. Meier zitiert das Chorlied des Sophokles: "Vieles Ungeheure ist und nichts so ungeheuer wie der Mensch." Allein die Knappheit der Darstellung von Meiers Buch legt nahe, dass es ihm nicht um eine herkömmliche Geschichte Europas gehen kann, sondern eher um ein Aufwerfen von Fragen, um die Integrierbarkeit des Vergangenen in das Heutige, um ein geschichtsphilosophisches Anliegen also. Die Phrase von den "Denkanstössen", die ein Buch vermitteln kann, macht hier ausnahmsweise einmal Sinn, zumal der Historiker - manchmal im fast zu zwanglosen Plauderton - auch immer wieder auf eine als durchaus problematisch empfundene Gegenwart zu sprechen kommt. Die zwischen die Extrempole Athen und Auschwitz eingespannte europäische Geschichte gibt ihm Anlass zu mannigfaltiger Reflexion über Wesen, Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wie die Politik ihre Gestaltungsmacht über eine Geschichte, die wie entgleist und entfesselt dahinrast, wieder erlangen kann, kann der Historiker nicht beantworten, aber die entsprechende Diagnose stellt er unzweideutig: "Je länger die Interdependenzketten in der grenzenlos werdenden Welt mit ihren schrumpfenden Distanzen werden, umso weniger lässt sich vermutlich kontrollieren; umso mehr leidet die Demokratie not". Und auch mit dem "Ungeheuren" werden wir weiter zu rechnen haben: "Der Weg wird weiter führen; das Zusammenbinden höchsten technischen Vermögens mit primitivstem Terrorismus könnte zum Beispiel auch in Europa möglich werden." (Christoph Winder/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./9. 6. 2002)