München/Stuttgart/Frankfurt/Zürich - Die Antisemitismus- und Rechtspopulismus-Debatte in Deutschland und der Konflikt um den stellvertretenden FDP-Chef Jürgen Möllemann, sowie die gegen diesen erhobenen "Haiderisierungs"-Vorwürfe beschäftigen weiter die deutsche Presse.
  • "Süddeutsche Zeitung":
  • "Zusammengefasst stellt sich bei den atemberaubend kaltschnäuzigen Ausführungen Westerwelles der Eindruck ein, hier ist eine Person, hier ist eine ganze Partei Opfer ihrer eigenen Aufopferungsbereitschaft für das Land geworden. Die Täter sind plötzlich die, die der FDP 'ehrverletzende' Vorwürfe machen. (...) Pech für den Pianisten am Medienklavier. Diese Partitur hat er voll verhauen. Wer ihn jetzt nach dem ('stern'-)Interview fragt, zum Beispiel nach diesem Schlüsselsatz: 'Wir bieten dem Protest eine Heimat', dem wird schnell ein 'selektives Gehör' unterstellt".

  • "Frankfurter Rundschau":
  • "Die Frage, die Demokraten jedweder Couleur in diesen Wochen umtreibt, ist, ob in Deutschland heute noch gilt, was die Gutwilligen für den bisherigen nationalen Minimalkonsens hielten. Jener lautete: Der Holocaust ist verbrecherischer Fakt und unveräußerlicher Bestandteil der deutschen Geschichte gegenwärtiger und zukünftiger Verantwortung. Jüdische Religion und Kultur sind selbstverständlicher, schützenswerter Teil deutscher Kultur. Das Existenzrecht des Staates Israel ist unantastbar. Die Politik des Staates Israel darf kritisiert werden. Diese Kritik darf weder rassistisch sein, noch zur Verharmlosung des Holocaust missbraucht werden. Niemand darf wegen seiner jüdischen Herkunft unmittelbar oder mittelbar angefeindet werden."

  • "Tages-Anzeiger":
  • "Entschieden ist der Machtkampf bei den Liberalen durch Möllemanns Einlenken noch lange nicht. Und gewiss wird die FDP auch nicht zum klassischen Liberalismus zurückkehren. Möllemann, schon immer ein Enfant terrible der deutschen Politik, gab keineswegs das Bild eines geknickten Verlierers ab - im Gegenteil, er zündelte weiter. In der FDP wird der hemmungslose Opportunist gebraucht, solange die Partei an ihrem Wahlziel von 18 Prozent festhält. Mit klassisch liberaler Klientel ist das nicht zu erreichen und auch nicht mit den Anhängern der Spaßgesellschaft, die den Fallschirmspringer Möllemann und das blau-gelbe Guidomobil lustig finden."

  • "Stuttgarter Zeitung":
  • "Spricht Jürgen Möllemann über Jörg Haider, dann spricht er vom 'Rattenfänger', mit dem ihn aber auch gar nichts verbinde. Richtig daran ist, dass Möllemann mit Haider nicht gleichgesetzt werden sollte. Richtig aber ist auch, dass der FDP-Mann manche FPÖ-Taktik perfekt kopiert. Haiders politischer Aufstieg lässt sich ohne spezifisch österreichische Gegebenheiten nicht erklären. Seinen Ruf - 'der traut sich was' - verdankt er dem Brechen von Tabus, die in Deutschland so nicht existieren. Und dennoch: beobachtet man Haiders Strategie, seine Mischung aus berechtigter Kritik und aggressiver Ausländerfeindlichkeit, dann zeigt sich eine Vorgehensweise, die auch bei Möllemann wieder zu erkennen ist. (...) Möllemanns Vorgehensweise weist nicht im Ausmaß der Angriffe und der Aggressivität, aber im Spiel mit Ressentiments Ähnlichkeiten auf."

  • "Handelsblatt":
  • "Gewiss, der 'Fall Karsli' ist ad acta gelegt. Damit ist die Angelegenheit jedoch weder für den jungen Vorsitzenden (Guido Westerwelle, Anm.) noch für die Partei als Ganzes erledigt. (...) Westerwelle ist so oder so geschwächt. Denn es wird in Erinnnerung bleiben, dass er Möllemann eben nicht wegen inhaltlicher Differenzen Paroli geboten hat, sondern erst, als seine Macht massiv bedroht war. (...) Der Fuchs Möllemann hat vor allem deshalb so schnell nachgegeben, weil er auch weiterhin seine ganz spezielle Version von Liberalismus in der ganzen FDP verbreiten will. Fast schon vergessen ist, dass Möllemann die Erfolge von Rechtspopulisten wie dem Österreicher Jörg Haider als 'Emanzipation der Demokraten' begrüßt hat. Nicht im Affekt, sondern schwarz auf weiss. Diese Hinwendung nach rechts findet begeisterte Anhänger, in- und außerhalb der Partei..."

  • "Neue Zürcher Zeitung":
  • "Eine nicht zu stoppende Eskalationsrhetorik beherrscht die Szene. Hatte es anfangs nur geheißen, Möllemann spiele mit antisemitischen Ressentiments, radikalisierten die hundert Journalisten ausgerechnet nach Eingeständnis seines Fehlers das Urteil: 'Jürgen W. Möllemann hat Michel Friedman rassistisch angegriffen und verletzt.' Parallel dazu erkannte Paul Spiegel in der inkriminierten Äußerung die 'schlimmste Beleidigung', die Juden seit dem Holocaust angetan worden sei. Nach dieser moralischen Erledigung folgt jetzt die öffentliche Ausrufung des Alarmzustands für ganze Gemeinwesen, auf den nur mit der kollektiven Mobilmachung geantwortet werden könne. Man hat den Eindruck, dass viele Medien den Schrecken mit jeder Ausgabe steigern möchten."

  • "Frankfurter Allgemeine Zeitung":
  • "Der Streit zwischen den beiden überdeckt deren Gemeinsamkeiten: Möllemann und Westerwelle sind sich einig darin, die Provokation als Mittel der Politik zu benutzen - Möllemanns politisch inszeniertes Fallschirmspringen und Westerwelles Besuch im Fernseh-Container sind populärer Ausdruck dieses Stils. Möllemann hat sich in der nun für beendet erklärten Auseinandersetzung nur insofern vergriffen, als er - geschichtsvergessen - gegen ein deutsches Tabu verstieß. Deswegen hatte Westerwelle zu reagieren. Der erzwungene freiwillige Austritt des parteilosen Jamal Karsli aus der nordrhein-westfälischen Landtagsfraktion und die Entschuldigung Möllemanns bei 'den jüdischen Menschen' - nicht bei Friedman, wie er ausdrücklich sagte - sollen nun den alten Zustand ihres Bündnisses wiederherstellen."

(APA/dpa)