Kommentar von Peter Vujica
Also, bitte, nur schön langsam. Freuen Sie sich nur ja nicht zu früh! Sie werden doch nicht ernsthaft annehmen, dass Sie von mir einen politisch korrekten Text zu erwarten haben. Wenn Sie also glauben, dass ich jetzt über Martin Walser herziehen werde, können Sie gleich zu lesen aufhören. So wie ich seit dem Fliehenden Pferd (das jetzt ja schon ziemlich alt und klapprig sein muss) aufgehört habe, seine Bücher zu lesen.

Und wenn sich jetzt auch die berühmtesten meiner Kollegen über Martin Walsers neues Buch in heiligster Entrüstung die Finger wund schreiben, so werde ich es ganz gewiss nicht lesen.

Erstens, weil ich seit Kindertagen grundsätzlich nichts lese, von dem es heißt, dass man es lesen muss. (So wie ich mit voller Überzeugung ganz gewiss nicht schreibe, was und wie ich schreiben sollte.)

Zweitens aber weil ich Martin Walser seit geraumer Zeit sehr mag, ganz egal, was er schreibt, und noch mehr egal, was die andern über das von ihm Geschriebene schreiben.

Meine persönliche Schwäche für Martin Walser hat nämlich nur mittelbar literarische Motive. Zur Darstellung dieser Beziehungskiste muss ich allerdings weiter ausholen.

Sagen wir einmal so: Käme ich auf die finstere Idee, arglose Leute mit meiner Autobiografie zu behelligen, müsste ich diese mit der Feststellung einleiten, dass mich mein beruflicher Lebensweg eigentlich von einem Irrenhaus ins andere führte, und dass ich es auch privat fast ausschließlich mit Wahnsinnigen zu tun hatte und (hoffentlich liest das jetzt niemand!) immer noch habe.

Der mir eigene Hang zur Selbstkritik weckt in mir freilich immer wieder die starke Vermutung, dass am Ende gerade das Gegenteil der Fall ist: Alle, die ich für wahnsinnig halte, sind völlig normal, und der Einzige, der tatsächlich verrückt ist, bin ich.

Die Frage, was dies alles nun mit Martin Walser zu tun hat, ist durchaus berechtigt und wird nun auch prompt ihrer Beantwortung zugeführt. Zu jenen Betrieben, in denen ich - möglicherweise als einziger Verrückter - mein Wesen trieb und immer noch treibe, zählt auch die Kulturredaktion des Blattes, das Sie gerade in Händen halten. Dort galt es einmal, neben tausenderlei anderen Dingen, auch einen Bericht über eine Veranstaltungsreihe in Vorarlberg zu organisieren.

Der für derlei Dinge bewährte Mann am Ort hörte auf den Namen Walser. Also erteilte ich der fleißigen Sekretärin den Auftrag, mich mit besagtem Herrn zu verbinden.

Gesagt, verbunden. Mit jovialer Freundlichkeit erteilte ich dem am anderen Ende der Leitung lauschenden Herrn detaillierte Aufträge, welche der Veranstaltungen er besuchen sollte und welche nicht und bis wann er wie viele Zeilen abzuliefern hätte.

Als ich mit meiner Wortsalve zu Ende war, staunte ich nicht schlecht, als Herr Walser sich in aller gebotenen Höflichkeit außerstande erklärte, meine Aufträge zu erfüllen. Auf meine ungehaltene Frage nach dem Grund seiner Weigerung, vernahm ich zunächst ein gequältes Wimmern und nach dessen Ende den Satz: "Aber ich muss doch schreiben!"

Ich ließ nicht locker, witterte Pfusch für ein Konkurrenzblatt und fragte, was er denn schreibe. Walser, vor Verzweiflung fast singend: "Ich muss mein neues Buch beenden."

Dann erst fiel bei mir der Groschen. Ich war mit dem falschen Walser verbunden, der heute der richtige wäre. Höflich entschuldigte ich mich für die Störung. Er aber bedauerte nochmals nicht minder höflich, dass er mir als Korrespondent nicht dienen könnte.

Seither mag ich Martin Walser, der nun vielleicht insgeheim bedauert, nicht S TANDARD -Berichte, sondern abermals ein Buch geschrieben zu haben. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.6.2002)