Nichts gelernt aus dem 21. April? In Frankreich herrscht bisweilen der Eindruck vor, als hätte es den sensationellen Erfolg des Front-National-Präsidenten Jean-Marie Le Pen im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen nie gegeben. Eine Woche vor der Neubestellung der Nationalversammlung zittern die Citoyens nicht wegen des rechtsextremen Schreckgespenstes - sondern wegen der Oberschenkelverletzung ihres Fußballstars Zinedine Zidane und der Startniederlage der "Bleus" bei der Fußball-WM. Und die politischen Parteien ergehen sich vorzugsweise in jenen Manövern und Winkelzügen, die so viele Wähler in die Arme Le Pens getrieben hatten.Auf der Rechten liegen sich Gaullisten und Zentristen in den Haaren, nachdem der wiedergewählte Staatspräsident Jacques Chirac mit der Bildung einer "Union für die präsidiale Mehrheit" (UMP) seinen Hegemonieanspruch über die gesamte Rechte erhoben hat. Die zentrumsliberale UDF von François Bayrou geht in den meisten der 577 Wahlkreisen mit eigenen Kandidaten in die Wahlen, um vom gaullistischen RPR und Chiracs UMP nicht vollends aufgerieben zu werden. Der Hintergrund des Zwistes ist auch finanziell: Wenn sich die UDF der UMP unterordnet, geht sie der staatlichen Parteisubventionen verlustig. Der bürgerliche Bürgerkrieg bricht nur deshalb nicht offen aus, weil die Rechte in den Umfragen vorne liegt. Das geltende Mehrheitswahlrecht mit zwei Durchgängen am 9. und 16. Juni macht Vorhersagen über die zukünftige Zusammenstellung der Nationalversammlung allerdings höchst unsicher. Die Linke glaubt allerdings selbst nicht an den Sieg. Eine klare Mehrheit wünscht heute keine "Cohabitation" mehr zwischen dem Konservativen Chirac und einer Linksregierung. Sozialisten, Grüne und Kommunisten einigten sich in 170 Wahlkreisen auf Einheitskandidaten ab dem ersten Wahlgang. Damit wollen sie ein Debakel wie bei den Präsidentschaftswahlen vermeiden, als Lionel Jospin im ersten Durchgang ausschied. Die Trotzkisten und die "Bürgerbewegung" von Jean-Pierre Chevènement treten aber getrennt an. Seitdem Jospin von der Bildfläche verschwunden ist, balgt sich im Parti Socialiste Sekretär François Hollande mit Exministern wie Dominique Strauss-Kahn oder Laurent Fabius um den Posten des nächsten Premierministers - die Parteibasis schaut kopfschüttelnd zu. Natürlich mangelt es nicht an Warnungen vor einem neuerlichen FN-Erfolg. Bloß unternimmt niemand wirklich etwas dagegen. Die Wahlvorschläge der großen politischen Lager bleiben an der Oberfläche: Die Rechtsregierung von Jean-Pierre Raffarin erlaubt der Polizei den Einsatz von Gummigeschoßen, um gegen Banlieue-Banden vorzugehen; die Linke schlägt die Anhebung des Mindestlohnes um fünf Prozent vor. Le Monde publizierte indes neue Zeugenaussagen, die Le Pens Beteiligung an Folterungen im Algerienkrieg 1957 bestätigen. Der FN-Chef bezeichnete dies als "Manipulationen"; er hatte 1962 allerdings selber eingeräumt, bei Folterungen mitgemacht zu haben. Umfragen räumen den Rechtsextremen ungefähr 15 Prozent der Stimmen ein. Nur in fünf Wahlkreisen werden ihnen Chancen eingeräumt, die Stimmenmehrheit zu erzielen. Le Pen selbst bewirbt sich selbst nicht um ein Mandat, sagt indes eine "Reihe von Überraschungen" voraus; ihm zufolge dürften sich seine Kandidaten in 300 der 577 Wahlkreise in die Stichwahl retten, und danach werde der FN in der Nationalversammlung "Zünglein an der Waage" spielen können.(Der STANDARD, Printausgabe 4.6.2002)