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Foto: dpa/Pleul
Vier Jahre hat er noch Zeit herauszufinden, wer "Juistine" wirklich war und woran sie starb. In vier Jahren geht Kriminaloberkommissar Michael Scheffer von der Polizeidienststelle Norden, einer Kleinstadt an der niedersächsischen Küste, in Rente. Der kleine, bedächtige Mann mit Lachfalten im Gesicht lässt sich nicht von seinem Ziel abbringen: "Juistine" irgendwann einmal ihrer Familie zurückzugeben. Am 14. November vorigen Jahres entdeckte eine Urlauberin auf der kleinen Insel Juist am Strand eine etwa 30jährige, unbekannte Frauenleiche. Sie war ein ganzes Jahr im Wasser getrieben, bevor sie mit der Morgenflut angeschwemmt wurde; entsprechend war ihr Anblick. Verwischte Spuren Der Inselgendarm wurde angerufen, er kam mit dem Fahrrad zur Fundstelle. Juist ist autofrei. Kurz darauf machte sich auch Kommissar Scheffer auf den Weg - von Norden mit dem Flugzeug auf die Insel und vom Landeplatz auf Juist weiter mit der Pferdekutsche. Die Kleidung der Leiche, Schuhe und Unterwäsche von "Marks & Spencer", Socken mit der Aufschrift "Bridgedale" und eine Armbanduhr von "Sekonda Quarz", deuteten darauf hin, dass die Tote Engländerin war. Vollständig erhaltene Zähne habe die Leiche gehabt, erklärt Scheffer, und somit gebe es die Möglichkeit, das Gebiss mit Zahnarztakten zu vergleichen. Über die Todesumstände weiß man nichts. Dadurch das "Juistine" - fast liebevoll nach dem Fundort, der Insel Juist, benannt - so lange im Wasser getrieben ist, sind die meisten Spuren verwischt, die auf einen gewaltsamen Tod hinweisen könnten. Scheffer: "Der ganze Kehlkopfbereich fehlt zum Beispiel, wenn ein Erwürgen oder Strangulieren stattgefunden hat." Den Kehlkopf jedoch hat sich in dem einen Jahr sowieso das Meer geholt. "Knöchern ist Juistine; und, übertrieben gesagt, der Leichnam und der Kopf hatte kein Loch oder keine Spalte", erklärt Scheffer das Fehlen von Spuren eines Schusswaffengebrauchs oder anderer Gewaltanwendung. So könne man vom Einfachsten ausgehen, nämlich Tod durch Ertrinken. Vielleicht Selbstmord, vielleicht ein Unfall. Der Kommissar wandte sich zunächst an das Landeskriminalamt. Ohne Erfolg. Dann an das Bundeskrimnalamt. Auch dort nichts. Zu guter Letzt bat er Interpol um Hilfe. Doch bei Interpol war man nach dem 11. September überlastet. "Wenn Sie die Datenwege sehen, die zwischen Interpol Deutschland und Interpol Großbritannien verlaufen, dann ist das eine Autobahn, die derzeit dicht ist", meint Scheffer. Angehörige leiden Dem Polizisten war der international standardisierte Ermittlungsweg zu langsam. Er ist seit 33 Jahren im Dienst und weiß, wie Menschen leiden, die nicht wissen, was aus ihren vermissten Angehörigen geworden ist. Seine Ansicht: "Wenn man Vermisstenfälle bearbeitet hat, weiß man, dass letztendlich auch die schlechte Nachricht, also der Tod eines Vermissten, bei den Angehörigen im Umkehrschluss doch Erleichterung auslöst - sie wissen dann, warum und wo sie trauern können. Und so meine ich einfach, wir als Polizei sind es dem Bürger schuldig, ihm diese Möglichkeiten zu geben, weil er sie braucht." Unkonventionelle Ermittlungsmethoden waren gefragt, also informierte Scheffer im Dezember einen Deutschlandkorrespondenten der BBC. Der zeigte sich interessiert an dem schwierigen Fall, machte daraus einen Radiobeitrag und erkundigte sich einige Monate später nach dem Stand der Ermittlungen. "Ich konnte ihm leider nur mitteilen, dass keine Bewegung hereingekommen ist", sagt Scheffer, "und dann hat er sich eben entschieden, die Geschichte etwas intensiver anzufassen, und das alles in Absprache mit unserer Staatsanwaltschaft, die ja Herrin des Verfahrens ist." Grab auf der Insel Das Echo: Die wichtigen englischen Tageszeitungen haben mittlerweile über den Fall berichtet und eine Lawine an Nachforschungen ins Rollen gebracht. Dennoch gibt es noch keine schlüssigen Hinweise auf "Juistines" wahre Identität. Aber Kriminaloberkommissar Michael Scheffer forscht weiter. Die Energie dazu bezieht er aus seiner Überzeugung, dass "Juistine" erst dann ihre letzte Ruhe finden könne, wenn Sie wieder zurückgefunden habe in die Nähe ihrer Angehörigen. Besonders stolz ist Scheffer, dass "Juistine" auf der Insel mit allen Ehren beerdigt wurde. Das sei für die Insulaner eine traurige, aber selbstverständliche Pflicht: "Sie leben im Wasser, sie leben vom Wasser, sie wissen, dass auch von ihnen Leute in so eine Lage kommen können, und möchten, dass dann auch ihre Angehörigen entsprechend würdevoll beerdigt werden, egal wo sie gestrandet sind." (DER STANDARD, Print, 4.6.2002)