Marcel Beyer

Foto: DuMont
In seinen Romanen und Lyrikbänden spürt der deutsche Autor Marcel Beyer den Spuren deutscher Vergangenheit in der Gesellschaft nach. Am Mittwoch Abend liest er in Klagenfurt, ab Donnerstag ist er in Innsbruck zu Gast. Wien - Der Raum ist selten unschuldig bei Marcel Beyer. Auf einem riesigen, giftigen Pilz steht die Nachkriegssiedlung, in der er die Protagonisten seines letzten Romans Spione unterbringt. Im Herbst treiben Sporen durch die Luft, setzt sich der Schimmel in immerfeuchten Kellern an. Ausbreiten konnte sich der wuchernde Organismus unter der Plastikplane, mit der Fachleute den Hügel der einstigen Mülldeponie abdeckten. Das plakative und geradezu körperlich einprägsame Bild des unterirdisch wirksamen Pilzes, hervorgegangen aus den verhüllten Verbrechen der Vergangenheit, durchflicht sinnbildlich Marcel Beyers literarisches Werk: Seine Romane und Gedichtbände betreiben akribische Sporen-Lese, begeben sich in die modernden Keller deutscher (Familien-)Geschichte, spüren dem Denken nach, der Sprache jener in Fäulnis und Verwesung übergegangenen Vergangenheit, deren Sporen bis heute die Atemluft vergiften. Unter den jüngeren deutschen Autoren ist Marcel Beyer, geboren 1965 in Süddeutschland, vielleicht der sorgsamste Sporen-Sucher. Seine geschärften Sinne entdecken Vergangenheitsgegenwart noch in den unscheinbarsten Partikeln des Heute. Schreibend wie lebend erkundet er die Zusammensetzung des bundesrepublikanischen Vergangenheits-Wurzelwerks: Vor nunmehr sechs Jahren zog Beyer, aufgewachsen im Westen, nach Dresden, wo er seither wohnt. Der unüberblickbaren Fülle wissenschaftlicher und belletristischer Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen bewusst, heftet sich sein Schreiben an die Nebenspurrillen der Zeit, die ihn ins Zentrum der Fragestellung führen. Es sind die Täter, denen er ins Fotoalbum blickt. - Oder auf das Ohr. Wie in seinem 1995 erschienenen Roman Flughunde .

Sprach-Stammeln
Dort berichtet er über die Jahre 1938 bis 1945 aus dem stark verengten Blickwinkel des Sprach-Spezialisten Hermann Karnau, dem er kapitelweise die Kinderstimme der ältesten Goebbels-Tochter Helga gegenüberstellt. Karnau - wie Helga Goebbels eine reale Figur - führt seine geradezu erotische Obsession für zitternde Stimmritzen, flatternde Stimmbänder und die Aufzeichnung jeder Form von Sprachäußerung in das feine Wachs der Schallplatte zu den Schaltstellen der Macht. Die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs verbringt er im Führerbunker, bemüht um Aufzeichnungen vom Reststammeln der schokoladegeschmierten Führerstimme und Zeuge des Tods der Goebbels-Kinder. Der Weg dorthin führt ihn über grausamste Verstümmelung der Kehlköpfe wehrloser Patienten, zu Material degradierter Opfer - auf der besessenen Suche nach der Formbarkeit des Sprechens. Es ist die eingeschränkte Perspektive, der keiner Schuld bewusste Täterblick, die auch methodische Fokussierung auf die Faszination der Sprache, die in Beyers vielfach ausgezeichnetem, von der Kritik gefeiertem Roman das Grauen in der Aussparung entstehen lassen. Erst in der Verbindung mit des Lesers Wissen entsteht aus dem Detail Vergangenheit. Vermutlich ist es dieses Nach-Spüren selbst, dem Beyers Interesse gilt. Der (Un-) möglichkeit, vergangenes Denken sprachlich zu rekonstruieren, und seinem von solchem Versuch unbeeindruckten Weiterwirken in der Gegenwart. Diesem Aufspüren und seinen vielfachen Trugschlüssen gelten denn auch Beyers letzte Werke: der vor zwei Jahren erschienene Roman Spione , der in vielfach wechselnden Perspektiven die selbst zur wahnhaften Obsession sich ausweitende Spionagearbeit in Sachen Familiengeschichte vierer Enkel beschreibt. Und der unlängst erschienene Lyrikband Erdkunde , Resultat zahlreicher Reisen Marcel Beyers an die Kriegsschauplätze des von Wehrmachts- veteranen mythisierten Ostens. Nicht zuletzt aber sind es der tastende, suchende Gestus von Beyers Sprache, die geradezu musikalische Rhythmisierung seiner Sätze, die Sprachgenauigkeit, die ihn zu einem der interessantesten Autoren seiner Generation werden lassen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 5. 2002)