So lange musste auch der österreichische Dokumentarfilmemacher Johannes Holzhausen warten, um die "Kiew" auf ihrer letzten Fahrt zu begleiten. Die Reise gibt Auf allen Meeren jedoch nur den Rahmen vor, sie dient als Anlass einer Rückschau auf die Ära des Kalten Krieges - über Erinnerungen der auf dem Schiff dienenden Soldaten.
Die erste Sequenz etabliert dabei die Lesart des Films, wenn ein Veteran seinem Sohn vom Schiff im Modus einer Legende berichtet. Holzhausen im Interview mit dem STANDARD: "Es geht nicht um objektive Geschichtsschreibung, sondern um individuelle Zugänge."
Dabei wird deutlich, dass die "Kiew" für alle Protagonisten Symbol einer überschaubaren Weltordnung war, in der man die eigene Funktion und das Feindbild kannte. Mit dem Zerfall der UdSSR wurde das Schiff auch Sinnbild für Risse in der eigenen Biografie.
Holzhausens Interesse gilt vor allem den emotionalen Bindungen: Einige ehemalige Mannschaftsmitglieder horten noch heute Gegenstände aus dem Schiff wie Reliquien: vom Teeservice bis zur löchrigen Flagge, die ehrwürdig aufgerollt wird. Ein anderer ist, von einem transzendentalen Erlebnis zur See bekehrt, gleich Priester geworden. Das Sinndefizit in der neuen Zeit scheint groß, doch Holzhausen geht es weniger um eine politische Lesart als um ein existenzielles Phänomen:
"Zum Zerfall der Sowjetunion hat ja jeder seine Theorie. Dieses Bewahrenwollen, oder dass sich Erinnerung über Gegenstände auflöst, ist dafür etwas Grundmenschliches. Es gibt keine Kontinuität für diese Leute, Erinnerung wird vielmehr zum Versuch, die Löcher zu flicken, eine Kontinuität beweisen zu wollen, die gar nicht mehr da ist."
Tönendes Geisterschiff
Die persönlichen Erinnerungen werden in Auf allen Meeren bildlich auf das Schiff übertragen. In Archivaufnah- men aus Wochenschauen, Schulungs- und privaten Super-8-Filmen erscheint es wieder geisterhaft belebt. Dazu ist auf der Tonebene ein beständiges Rumoren, eine Art Echo, zu vernehmen: "Das Lied der 'Kiew'", wie es Holzhausen und sein Cutter und Sounddesigner Michael Palm nannten.
"Wir haben lange nicht gewusst, wie wir mit dem Archivmaterial umgehen sollen. Das war oft so dominant und pathetisch, mit Off-Texten wie 'Mutter, ich denke an die heimischen Birken, wenn ich die feindlichen Schiffe sehe.' Wir mussten das Material verfremden, um es unterzuordnen, immer im Hinblick darauf, etwas von dieser Übermacht der Technologie zu zeigen, vom Verhältnis des Menschen zum Apparat. Der zweite Schritt war, mit dem Ton eine Waage zu finden: Da hatten wir die Idee, den Ton des Materials zu nehmen und keine eigene Musik."
Gesungene Lieder sind dafür gleichsam das Requiem, das die "Kiew" in ihre neue Bestimmung begleitet. Auf einer Militärakademie singt ein Kadett noch vom Krieg, die nächste Strophe gehört schon den Chinesen, die sich bei der Überführung die Zeit mit Karaoke vertreiben. Die letzte Fahrt des Flugzeugträgers hat aber auch ein konkretes Ziel, weniger räumlich als zeitlich: